Peter Radtke

Sprache ist Denken -

Über den gedankenlosen Umgang mit Sprache

(Freiburg 1994)

Sie kennen sicher den geistreichen Witz, der uns schon im Titusbrief des Apostels Paulus überliefert wird: "Die Kreter behaupten: Alle Kreter sind Lügner". So ähnlich geht es mir, wenn ich den Titel unseres heutigen Referates betrachte: "Sprache ist Denken - Über den gedankenlosen Umgang mit Sprache". So unumstritten es ist, daß wir leichtfertig und schludrig mit unserer Sprache umgehen, so eindeutig müssen wir feststellen: Es gibt keinen "gedankenlosen" Umgang mit der Sprache. Jede Verwendung der Sprache beinhaltet Gedanken. Die Frage ist lediglich, ob diese Gedanken dem Gegenstand, der behandelt wird, angemessen sind.
Benjamin Lee Whorf, der große amerikanische Linguist, dessen wichtigste Beiträge zur Sprachwissenschaft 1956 in einem Sammelband unter dem Titel "Language, Thought, and Reality" - zu deutsch "Sprache - Denken - Wirklichkeit" - herauskamen, hat sich vielleicht am intensivsten von allen modernen Geisteswissenschaftlern mit der Wechselbeziehung zwischen Sprache und Denken auseinandergesetzt. Da ich annehme, daß sich nur die wenigsten von Ihnen auf diesem Gebiet auskennen, bleibt es uns nicht erspart, für das Verständnis unseres Themas einige Grundbegriffe zu klären und einen Blick auf die Thesen von Whorf zu werfen.

Zunächst muß man drei Arten von "Sprache" auseinanderhalten: Sprache als allgemeines Phänomen, das uns vom Tier unterscheidet, Sprache als Ausdrucksform einer bestimmten gesellschaftlichen oder nationalen Gemeinschaft und Sprache als individuelle Ausformung des einzelnen Sprechenden. Ferdinand de Saussure, der Vater der modernen Linguistik, hat für diese drei Varianten die Begriffe "langage", "langue" und "parole" geprägt. Ich darf Ihnen das Gesagte an einem Beispiel aus dem Behindertenbereich erläutern. Gehörlose Menschen können sich untereinander verständigen, haben also Teil am allgemeinen Sprachsystem. Andererseits sind sie nicht integriert in die herkömmliche deutsche Sprache, insofern sie ihre eigene Gebärdensprache benützen. Eine Nationalsprache zeichnet sich nämlich durch eine gemeinsame Syntax, Grammatik und einen festen Wortschatz aus. Gerade diese Gemeinsamkeit mit der deutschen Sprache ist bei der sogenannten "Deutschen Gebärdensprache" nicht gegeben, anders als bei der sogenannten "lautsprachbegleitenden Gebärde". In der "Deutschen Gebärdensprache" herrschen eigene Regeln, eigene Ausdrucksformen. Schließlich unterscheidet sich das "Sprechen" von gehörlosen Menschen, also die individuelle Ausdrucksweise, wobei nicht der Versuch der verbalen Kommunikation gemeint sein soll, von jenem der Hörenden nicht nur durch den Gebrauch der Hände statt des Mundes und der Stimme sondern auch durch die Perzeption der Umwelt, worauf ich noch zurückkommen werde.

Noch eine zweite Differenzierung müssen wir zum besseren Verständnis dieses Referates einführen. Saussure unterscheidet zwischen "signifiant" und "signifié", "Bezeichnendem" und "Bezeichnetem". Normalerweise bezeichnet das Wort "Stuhl" einen Gegenstand, den wir als Stuhl zu erkennen glauben. Wir denken über den Begriff nicht weiter nach, da wir annehmen, daß unsere Gesprächspartner das Gleiche darunter verstehen wie wir. Problematisch wird es allerdings, wenn wir glauben, wir befänden uns auf derselben Wellenlänge, während in Wirklichkeit unterschiedliche Vorstellungen vorhanden sind. Das kann z. B. passieren, wenn unsere Partner aus dem angelsächsischen Sprachraum stammen. Dann werden sie nämlich unter "stool" einen Schemel vermuten, während wir doch einen "chair" anbieten wollten. In der Gebärdensprache, um ein weiteres Beispiel zu erwähnen, ist das Zeichen für "gut" identisch mit einer Geste bei Nichthörgeschädigten, die alles andere als "gut" bezeichnet. Es bedarf wohl keiner besonderen Erläuterung, daß die Verständigung überhaupt nicht mehr klappt, wenn es sich um Sprachen handelt, die von der jeweiligen Gegenseite nicht beherrscht werden. Damit wären wir wieder bei Benjamin Lee Whorf angelangt, dem die Verbindung zwischen "Bezeichnendem" und "Bezeichnetem" von größter Bedeutung war.

Durch die Erforschung der Indianersprachen, vor allem der Sprache der Hopi, erkannte Whorf, daß es sich bei den Polen "Bezeichnendes" und "Bezeichnetes" keinesfalls um feste Größen handelt. Bis dahin hatte man angenommen, daß zwar das für einen Gegenstand oder ein Phänomen jeweils gebrauchte Wort in den verschiedenen Sprachen unterschiedlich sei, daß aber die Sprechenden letztlich das Gleiche meinten. Das heißt, man glaubte, daß jemand, der "disabled" sagt, genau dieselbe Vorstellung hat, wie ein anderer, der das Wort "behindert" benutzt. Whorf stellte hingegen fest, daß es auch Unterschiede im jeweils Bezeichneten gibt. Wenn wir z. B. "weiß" sagen, glauben wir, eine eindeutige Farbdefinition zu geben. Für Eskimos wäre dieser Begriff aber völlig nichtssagend. Ihre Farbwahrnehmung kennt so viele unterschiedliche Nuancierungen von Weiß, daß unsere anscheinend so klare Bezeichnung höchstens einen Minimalbereich ihres Erfahrungsspektrums in Sachen "Weiß" abdeckt. Da gibt es z.B. das Weiß vom Schnee und jenes vom Gletscher, das Weiß, auf das die Sonne leuchtet, und das Weiß, das vom Nebel gebildet wird. In gleicher Weise kennen wiederum südamerikanische Indianerstämme eine Vielzahl von "Grün"-Schattierungen, für die in indogermanischen Sprachen keine Entsprechung vorhanden ist. Die Sprache spiegelt also die im Alltagsleben vorgefundene Wirklichkeit. Da Eskimos in einer Welt unterschiedlicher Weißtöne leben, haben sie in ihrer Sprache hierfür Differenzierungsmöglichkeiten gefunden. Indianer im Amazonasgebiet benötigen diese Unterscheidungskriterien nicht, müssen hingegen Aussagen machen können über die verschiedenen Töne der Farbe Grün. 

Dies scheint ein sehr einfaches Erklärungsmodell. Die Sprache paßt sich also den jeweiligen Gegebenheiten an, und damit basta. Doch der Sachverhalt ist um einiges komplexer. Wofür ich keinen Begriff habe, das kann ich auch nicht ausdrücken. Was ich aber nicht ausdrücken kann, findet auch keinen Platz in meinem Denken, oder, wie Wittgenstein sagt: "Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt". Bleiben wir bei unserm Beispiel der Farbe Weiß. Wenn ein Mitteleuropäer nach Grönland fährt, wird er wahrscheinlich dennoch nicht sofort die verschiedenen Nuancen des Weiß registrieren. Vielmehr wird er versuchen, sein sprachlich geprägtes Raster auf die neuen Eindrücke zu übertragen. Erst wenn er längere Zeit in Schnee und Eis verbracht  hat, vielleicht sogar mit den unterschiedlichen Farbschattierungen arbeiten muß, wird sich seine Empfänglichkeit für die verschiedenen Farbtöne entwickeln. Anders ausgedrückt: Unsere Umgebung beeinflußt in höchstem Maße unsere Sprache. Diese aber gibt wiederum die Bahnen vor, auf denen sich unser Denken entwickelt. Es läßt sich nichts denken, was nicht in sprachliche Form zu gießen ist. Dabei verstehe ich unter "sprachlich" nicht verbal sondern, wie anfangs erläutert, einem Sprachsystem zugehörig. Wie soll man z.B. in der Gebärdensprache Abstrakta wiedergeben, z.B. "Heiliger Geist"? Seelsorger haben sich mit dem Zeichen für Wind beholfen, aber ob dies den Gedanken des Heiligen Geistes näherbringt, bleibe dahingestellt. Allerdings haben bekanntlich auch Nicht-Hörgeschädigte Probleme mit der Begrifflichkeit des Heiligen Geistes. Die gegenseitige Beeinflussung von Sprache und Denken ist ein dialektischer Prozeß, wobei es gleichgültig ist, was zuerst vorhanden ist und was später. Die Geschichte erinnert an die Problemstellung "Henne und Ei". Ich habe mich nun lange mit theoretischen Erörterungen über die Sprache aufgehalten und weiß doch, daß Sie von einem Referat vor Mitarbeitern in Behinderteneinrichtungen konkrete Aussagen zum Thema "Behinderung und Sprache" erwarten. Trotzdem glaube ich, daß nur auf dem Hintergrund solcher allgemeiner linguistischer Grundzüge die Aufgabenstellung befriedigend gelöst werden kann.

Ich höre immer wieder, unsere Sprache würde behinderte Menschen diskriminieren. Das stimmt, und stimmt auch wieder nicht. Nicht die Sprache diskriminiert, oder nur in den seltensten Fällen, sondern der Sprechende, der das Gesagte in einen bestimmten Kontext stellt. Nehmen wir das bekannteste Beispiel: den Begriff "Krüppel". Er leitet sich ab aus der Wortfamilie "Kringel", die dem Lateinischen "contractus" - "zusammenziehen", "klein werden" und konsequent daraus folgernd "lahm werden" entspricht. Interessanterweise geht auch unser heutiges "krank" auf die gleiche Wurzel zurück. Man kann nun, rein biologisch gesehen, den Vorgang nachvollziehen: Muskeln ziehen sich zusammen, die Glieder werden hierdurch verkürzt und verkrümmt, der Betroffene kann nicht mehr gehen und wird lahm. Der "Krüppel" ist also, vom Standpunkt des Mediziners, die objektive Beschreibung eines natürlichen Geschehens. Ohne die Verhältnisse in den letzten Jahrhunderten positiv reden zu wollen, muß man sagen, daß die Verwendung der Bezeichnung "Krüppel" früher viel eher jenem neutralen Beschreiben zuzurechnen war, als dies heute überhaupt vorstellbar ist. Zwar hatte der Begriff, wie wir dem Grimmschen "Deutschen Wörterbuch" entnehmen können, schon seit dem 15. Jahrhundert einen gewissen pejorativen Beigeschmack, da mit ihm auch das Kleinerwerden (sprich: Abnehmen) und Aus-dem-Ebenmaß-Herausfallen verbunden war, aber doch nie in der Weise, wie wir dies aus der Gegenwart kennen. Wenn Johann Nepomuk Edler von Kurz 1832 in München die erste Einrichtung für "krüppelhafte Kinder" Europas eröffnete, wie die Bezeichnung damals hochoffiziell lautete, war hinter jenem Namen keine Diffamierung versteckt, sondern es war dies ein Ausdruck, der eben eine gewisse Gruppe Menschen bezeichnete, die trotz ihrer Einschränkung zu "nützlichen Gliedern der Gesellschaft" herangezogen werden sollten. Knapp hundert Jahre später, als Hans Würtz in Leipzig sein Buch "Das Seelenleben des Krüppels" (1921) herausbrachte, hatten sich die Dinge schon weiter entwickelt. Die Suche in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nach einem weniger diffamierenden Begriff als den des "Krüppels" für Menschen mit einer Behinderung zeigt, daß die Bezeichnung zu jener Zeit bereits verstärkt als Diskriminierung verstanden wurde. Nicht zuletzt durch die industrielle Revolution hatte sich das Menschenbild in einer Weise geändert, daß die Produktivität einen immer höheren Rang in der gesellschaftlichen Werteskala einnahm. Behinderte Glieder der Gemeinschaft verloren damit automatisch an Rücksichtnahme und menschlichem Respekt. "Krüppel" rückte immer ausschließlicher in den Dunstkreis eines Schimpfwortes. Schon 1907 rief der Berliner Orthopäde Konrad Biesalski in der "Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins" zur Suche nach einer Alternative zu "Krüppel", nur um acht Jahre später einzugestehen: "Niemand stoße sich an dem Worte 'Krüppel'; die Fachleute haben vergeblich sich bemüht, einen Ersatz zu finden! (...) Es gibt nur ein Mittel, über dieses Wort hinwegzukommen, nämlich umzulernen und nicht unter einem Krüppel ein abschreckendes Jammerbild zu verstehen." Fast möchte ich mich diesem Diktum anschließen, wenn wir nicht in der Zwischenzeit tatsächlich weniger vorbelastete Bezeichnungen gefunden hätten. Unter der Naziideologie mit ihrem Wahn von Ebenmaß und körperlicher Schönheit, von Erbgutreinheit und arischem Übermenschen, erhielt der Ausdruck "Krüppel" schließlich jene durch und durch abfällige Tönung, die wir heute in erster Linie in ihm sehen. 

Ich wage zu behaupten, der Begriff "Krüppel" für sich genommen, beinhaltete noch nicht von vornherein eine Diskriminierung. In dem Maße, in dem jedoch das Bezeichnete der gesellschaftlichen Ächtung anheim fiel, nahm auch das Bezeichnende die negative Wertung in sich auf. Wir kennen ähnliche Erscheinungen in anderen Sprachbereichen. "Dirne" bezeichnete zum Beispiel anfangs ein junges Mädchen schlechthin. Die Dialektausdrücke "Deern" im Norddeutschen und "Dearndl" im Österreichisch-Bayerischen spiegeln noch diese Wertfreiheit wieder. Der nächste Schritt zum heutigen Begriff der "Dirne" war die Anwendung des Wortes auf die Tätigkeit einer Hausdienerin oder Magd, die eben häufig von jungen Mädchen ausgeführt wurde. In dem Maße, in dem dieser Stand an Ansehen verlor, nicht selten solche jungen Frauen auch tatsächlich in die Stadt zogen, um dort dem Gewerbe der Prostitution nachzugehen, wurde "Dirne" zum Ausdruck für "Hure", ein Begriff, der nicht eine derartige Bedeutungsverschlechterung durchgemacht hat, sondern von Anfang an das meinte, was er bezeichnete. Auch in diesem Fall kann man nicht sagen, daß der Begriff den "Berufsstand" - wenn man davon sprechen darf - diffamierte, sondern er entwickelte sich aufgrund der Gegebenheiten. 

Blieben wir jedoch bei dieser Stufe der Analyse stehen, verkürzten wir die Sprache zu einem eindimensionalen Mechanismus. Ich sagte bereits, daß wir durch Denken unsere Sprache formen, aber diese wiederum Auswirkungen auf unser Denken hat. Der kleine Junge, der irgendwo das Wort "Dirne" aufschnappt, fragt: "Papa, was ist eine Dirne" und der geplagte Papa muß eine Antwort finden, die einerseits ein Stück Wahrheit beinhaltet, andererseits dem kindlichen Verstandeshorizont angemessen ist. Mit der Aufnahme des Begriffes "Dirne" in den Sprachschatz des Kindes wird aber gleichzeitig im Denken eine Vorstellung verankert, die - ob richtig oder falsch - in dieser Weise vorher noch nicht existiert hat. Das Kind konnte sich eine Frau, die käuflich Liebe feilbietet, nicht vorstellen, weil es eine solche in seiner Sprache und damit in seiner Denken nicht gab. Daher ist es nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn Eltern, in behütender Sorgfalt, versuchen, den Wortschatz eines Kindes so lange wie irgend möglich frei von sogenannten "bösen Wörtern" zu halten. Gelingen wird es ohnedies nie.

Kehren wir zurück zu unserm Begriff "Krüppel". Es existiert eine paradoxe aber letztendlich sehr logische Situation. Wenn eine als diffamierend angesehene Bezeichnung durch eine andere, angeblich weniger diskriminierende, abgelöst wird, verstärkt sich automatisch die negative Wirkung der ersteren. Für den an sich wissenschaftlich wertneutralen jedoch als Abwertung empfundenen Ausdruck "Krüppel" wurden im Laufe der Zeit mehrere Alternativen gefunden, so z.B. Kriegsbeschädigter, Invalide oder, nach dem Krieg, Behinderter. Abgesehen von der Frage, ob derartige Bezeichnungen, wenn man auf ihre Sprachwurzeln zurückgeht, nicht vielleicht noch viel eher eine Diskriminierung bedeuten, weil sie nicht nur einen objektiven Tatbestand festhalten, sondern ihn eindeutig mit einer Wertevorstellung des Defizitären koppeln, müssen wir uns mit einem andern Problem auseinandersetzen: Wenn ein Bezeichnetes mit einer negativen Vorstellung behaftet ist, wird jeder Begriff, also jedes Bezeichnende, über kurz oder lang ebenfalls einen negativen Beigeschmack erhalten. Im täglichen Leben bedeutet dies, daß wir uns nach einigen Jahren erneut mit der Frage auseinandersetzen müssen, welchen neuen Ausdruck wir für den angeblich diffamierenden Begriff suchen sollen. Es gibt keine noch so euphemistisch klingende Beschreibung, die aus Schwarz Weiß machen könnte.

Heißt das nun, daß die Vermeidung diskriminierender Bezeichnungen sinnlos wäre? Dies ist sicher nicht gemeint. Wie bereits im Beispiel des Begriffes "Dirne" gezeigt, schaffen wir mit bestimmten Begriffen mitunter erst den Nährboden für gewisse Denkstrukturen. Umgekehrt sollten wir uns jedoch auch nicht von der Illusion leiten lassen, daß wir die Ablehnung behinderter Menschen in weiten Kreisen der Bevölkerung einfach dadurch wettmachen könnten, indem wir versuchen, die entsprechenden diffamierenden Begriffe auszumerzen. Wo eine latente diskriminierende Haltung vorhanden ist, wird jede noch so gute Sprachhygiene an ihre Grenzen stoßen. Dies war letztlich wohl auch der Grund für die vielgescholtene sogenannten "Krüppelbewegung", das geächtete Wort "Krüppel" gewissermaßen wieder aus der Mottenkiste der Sprache hervorzuholen. Ihre Argumentation lautete, man solle nichts beschönigen, wenn die Verhältnisse den neugefundenen Begriffen nicht entsprächen.

Erlauben Sie mir, diese theoretischen Erläuterungen mit etwas praktischem Alltag anzureichern. Ich möchte dabei einmal mehr beim Beispiel des Begriffes "Krüppel" bleiben. Es führt wohl kein Weg an der Erkenntnis vorbei, daß ich, rein objektiv betrachtet, ein  verkrüppelter Mensch bin. Durch viele Frakturen in Kindheit und Jugend sind meine Knochen so deformiert, daß die Bezeichnung im Sinne ihrer bereits dargelegten Wurzel "zusammenziehen", "klein werden", "verkrümmen" durchaus zutreffend wäre. Dennoch meide auch ich das Wort, weil ich weiß, daß es als Kampfbegriff verstanden wird, und ich sehe keinen Grund, unnötige Schärfe in einen an sich schon komplizierten Dialog zu bringen. Ich selbst verwende also "Krüppel" nicht in Bezug auf meine Person. Normalerweise tun dies auch meine Gesprächspartner nicht. Dennoch erlebte ich hinsichtlich meines ersten professionellen Auftretens als behinderter Schauspieler auf einer der renommiertesten Bühnen Deutschlands eine Renaissance dieser Bezeichnung, die mich gleichzeitig erschreckte und mir zeigte, wie sehr hinter den beschwichtigenden Redewendungen noch alte ablehnende Haltungen lauern. Plötzlich hieß es wieder "Ein Krüppel auf der Bühne", "Darf ein Krüppel einen Krüppel spielen?" und ähnliche Formulierungen. 

Zwei Erkenntnisse können wir aus dieser Erfahrung ziehen: "Wenn zwei Menschen dasselbe tun, ist es nicht dasselbe" und "Eine Bezeichnung selbst ist in den allerseltensten Fällen diskriminierend; es ist viel eher der Kontext, in den sie gestellt ist." Der bekannte amerikanische Cartoonist Tom Callaghan, der seit einem Unfall auf den Rollstuhl angewiesen ist und mit Vorliebe seinen schwarzen Humor an Szenen aus dem Alltagsleben behinderter Menschen ausläßt, sagte einmal - ich denke nicht ganz zu Unrecht - "Wir dürfen über uns Witze machen soviel wir wollen", und ich möchte hinzufügen "Anderen steht dieses Recht nicht in gleicher Weise zu". Wenn mich ein Schicksalsgefährte mit dem Begriff "Krüppel" tituliert, fasse ich dies anders auf, als wenn es ein sogenannter Nichtbehinderter tut. Ich sage nicht, daß ich das Wort besonders gerne höre, aber ich erkenne in seiner Verwendung durch einen Betroffenen mehr die Solidarität untereinander als die Betonung des Diskriminierenden. Ganz ähnlich sieht es der bekannte katalanische Literat Josep M. Espinàs, Vater eines Kindes mit Down-Syndrom. Er schreibt in seinen Aufzeichnungen "Dein Name ist Olga - Briefe an meine mongoloide Tochter", nachdem er zunächst selbst euphemistisch verbrämende Ausdrücke für das Phänomen der geistigen Behinderung wählte: "Ich habe gelernt, daß die höchste Liebe einen in diesem Falle - und gewiß auch in andern Fällen - dahin führt, die Dinge mit dem genauen Wort zu benennen oder wenigstens mit dem Wort, wodurch sich der Mensch mit der Wirklichkeit identifizieren kann. Mit der Zeit haben wir das Recht erlangt, uns als Eltern eines abnormalen Kindes öffentlich zu zeigen, und allein die Tatsache, daß wir das Wort gebrauchten, das sich die andern, aus Takt, nicht getrauten, vor uns auf unser Kind anzuwenden, glaube ich, war schon ein Akt der Liebe."

Damit sind wir auch schon beim zweiten Aspekt angelangt, den ich angesprochen habe. Neben dem Sprechenden kommt es immer auf den Kontext an, in dem ein Begriff zur Anwendung gelangt. Es ist etwas anderes ob z.B. jemand voller Bewunderung sagt: "Schau an, dieser Hundskrüppel!", wie dies häufiger im Bayerischen geschieht, oder diesen Begriff abfällig verwendet in einem Satz wie "Was will denn der Krüppel?" Angefangen von der Betonung über die Satzstellung bis hin zur umgebenden Wortwahl kann ein und dieselbe Vokabel Diskriminierung oder Hochachtung ausdrücken. Das Herauspicken einzelner Begriffe und ihre Verteufelung scheint mir ebenso mechanisch und oberflächlich, wie umgekehrt der unachtsame Gebrauch herkömmlicher Redewendungen und Sprachgepflogenheiten. Aber es ist wesentlich einfacher, auf ein Wort zu deuten und seine Ausrottung zu verlangen, als sorgsam den jeweiligen Zusammenhang zwischen Ausdruck und Umfeld abzuwägen. 

Vielleicht wird sich jetzt Kritik erheben, weil ich das Problem der Diskriminierung durch Sprache scheinbar zu sehr herabspiele. Das Gegenteil ist der Fall. Ich möchte gerne das Schwergewicht unserer Betrachtung auf jene Aspekte lenken, die, meines Erachtens, viel gefährlicher, weil subtiler unser Denken beeinflussen und dabei unermeßlichen Schaden anrichten. Ich denke an den Gebrauch gewisser Sprachformen und die Verwendung vermeintlich unproblematischer Begriffe. Da wäre zunächst die gängige Substantivierung des Adjektivs: "der Behinderte" statt "der behinderte Mensch", "der behinderte Heranwachsende", "der behinderte Bürger" oder, noch besser, "der junge Mann mit einer Querschnittlähmung", "der durch eine Behinderung beeinträchtigte Bürger" oder "Menschen, die mit einer Behinderung leben". Indem wir aus einem Beiwort - ich verwende hier lieber diesen Begriff als die übliche Bezeichnung "Eigenschaftswort", weil Behinderung keine Eigenschaft ist - ein Hauptwort machen, reduzieren wir den Betroffenen auf dieses eine Merkmal, als setze er sich nicht aus einer Vielzahl weiterer Aspekte zusammen. Wir kennen den Vorgang aus anderen Bereichen. Da spricht man von "den Deutschen", "den Ausländern", "den Mohammedanern". In der Bezeichnung "der Behinderte" wird zusätzlich die Mehrzahl in die Einzahl gesetzt, so daß der Eindruck eines homogenen Kollektivkörpers entsteht, der sich durch nichts Anderes kennzeichnet als eben seine Behinderung. Diese Gleichschaltung der verschiedensten individuellen Ausformungen, die natürlich auch unter Menschen mit einer Behinderung anzutreffen sind, verstärkt in der Gesellschaft die Vorstellung einer beängstigenden, einheitlichen Masse des Andersseins. Das möglicherweise Verbindende tritt in den Hintergrund, das Fremde gewinnt die Oberhand. 

Betrachten wir eine andere Gepflogenheit. Wenn wir vom Vermeiden diskriminierender Begriffe sprechen, dann geht es in der Regel lediglich um das Ersetzen eines negativ besetzten Wortes durch ein anderes, zunächst als nicht negativ angesehenes, am besten ein völlig wertneutrales. Dies reicht aber, wie bereits erwähnt, nicht aus, denn rascher als gewünscht, sind die alten Verhältnisse wieder hergestellt. Ich meine, wir brauchen nicht neue Wörter für alte, uns unlieb gewordene, sondern wir müssen beginnen, bewußt die positiven Seiten im Behindertsein aufzuspüren und sie benennen. Ein wertneutraler Ausdruck kann schnell das Odium des Pejorativen erhalten; ein an sich in der übrigen Sprache positiv verstandener Begriff wird dieser Entwicklung stärkeren Widerstand entgegensetzen. Nur wenn wir mit dem Umdenken anfangen, hat auch das Umbenennen einen Sinn. Erlauben Sie mir, das Gesagte an einem Beispiel deutlich zu machen. Persönlich halte ich nicht viel von der Vermeidung des Wortes Mongolismus, obwohl ich es selbstverständlich aus Rücksicht vor den Betroffenen und insbesondere ihren Angehörigen nicht mehr gebrauche. Ich nehme nicht an, daß durch diese Bezeichnung tatsächlich Erinnerungen an Mongolen und damit Gefahr und Angst verbunden sind. Vielmehr glaube ich, daß sowohl der Begriff "Geistigbehinderte", als auch der Ausdruck "Menschen mit Down-Syndrom" irgendwann der gleichen Ächtung anheimfallen wird, weil man sich hierunter nichts Positives vorstellt und damit letztlich wieder zurückkehrt zu dem, was geistige Behinderung für viele eben noch heute bedeutet: Blödheit, Unberechenbarkeit, Belastung, unwertes Leben ... ich brauche die Vorstellungen nicht weiter aufzuzählen. Warum aber sucht man nicht nach jenen Begriffen, die auch tatsächlich Teil von geistiger Behinderung ausmachen, aber ganz offensichtlich positive, in unserm Normensystem geschätzte Werte ansprechen. Ich denke dabei z.B. an "spontan handelnd", "gefühlsorientiert", "unverbildet". Bleiben wir einen Augenblick bei jenem letzten Begriff. Stellen Sie sich vor, wir würden generell geistig Behinderte als "Unverbildete" bezeichnen, und dies würde sich allgemein einbürgern. Durch solch eine positive Wendung erhielte plötzlich die sogenannte nichtbehinderte Umwelt einen fragwürdigen Beigeschmack. Denkstrukturen gerieten mit einem Mal ins Wanken; wir müßten uns fundamental umorientieren. Genau dies ist es, was ich unter der gegenseitigen Beeinflussung von Sprache, Denken und Wirklichkeit verstehe, nicht aber den Austausch bloßer Bezeichnungen. Warum heißt es z.B. immer wieder "an den Rollstuhl gefesselt", wenn doch der Rollstuhl für viele gelähmte Menschen ein Zeichen wiedergewonnener Mobilität darstellt. Nur ein Nichtbehinderter oder höchstens der behinderte Mensch, der früher einmal gehen konnte, wird eine solche Umschreibung wählen. Damit wird aber totale Hilflosigkeit suggeriert, die durch den Rollstuhl oftmals vielmehr aufgehoben ist.

Ich möchte gerne noch eine weitere Probe dessen geben, was Denken und damit das Bild behinderter Menschen in unserer Gesellschaft verändern könnte. Diesmal handelt es sich um eine simple Redewendung, der wir in Zeitungen, Referaten und Fachvorträgen auf Schritt und Tritt begegnen. Überall spricht man vom Ziel der "Integration Behinderter in die Gesellschaft". Mit dem substantivierten Kollektivbegriff "Behinderte" haben wir uns schon beschäftigt. Jetzt geht es um das unbewußte Auseinanderdividieren von einerseits "Gesellschaft" und andererseits "behinderten Bürgern". Eine Integration in die Gesellschaft geht von einer Vorstellung aus, als handle es sich um zwei verschiedene Personengruppen. Gerade das ist nicht der Fall. Menschen mit einer Behinderung sind per definitionem natürlich genauso Gesellschaft wie Personen ohne Behinderung. Die Aussonderung findet folglich bereits in den Köpfen der Leute statt, dokumentiert durch die Sprache, so daß der Schritt zur realen Ausgrenzung nur noch minimal ist. Bitte glauben Sie nicht, es handle sich hier um Kleinkrämerei. Wie schon erwähnt, halte ich solche Sprachsünden für wesentlich gefährlicher als die offenkundigen "Schimpfworte". Sie vergiften nämlich heimlich und unbeachtet das Klima, das für jede Normalisierung von entscheidender Bedeutung ist. Hier schleicht sich, ohne daß wir es merken, die Singer'sche Antinomie von "Mensch" und "Person" ein, obwohl sich kaum einer von uns dieser Tragweite bewußt ist.

Vielleicht sind Sie von meinen Ausführungen enttäuscht worden. Vielleicht hatten Sie sich eine Vielzahl von Einzelbeispielen erhofft, auf die man mit Fingern hätte zeigen können und die man nur zu vermeiden brauchte, damit die Welt wieder in Ordnung ist. So einfach geht es nicht. Ich wollte statt in die Breite, in die Tiefe gehen. Wenn wir uns nicht über unser Verhältnis zu Menschen mit einer Behinderung klar werden, wenn wir nicht beginnen, unsere Haltung zu überprüfen - auch als Mitarbeiter in Einrichtungen, als Angehörige, als Helfer in der offenen Behindertenarbeit - dann wird es uns nie gelingen, eine diskriminierungslose Sprache zu verwenden. Fahren wir aber fort mit unseren diffamierenden Ausdrucksformen, wird umgekehrt auch das Denken in Bahnen gelenkt, die wenig für eine Besserung hoffen lassen. Es mag nun den Anschein haben, als befanden wir uns in einem unentrinnbaren Teufelskreis. Das ist ein Irrtum. Wir müssen nur an einer einzigen Stelle die scheinbar aussichtslose Situation durchbrechen, um die Spirale, denn um eine solche handelt es sich - eher als um einen Kreis - in entgegengesetzte Richtung zu bewegen. Vielleicht konnten die heutigen Gedanken hierzu einen Anstoß geben.