Peter Radtke

Warum unsere Gesellschaft behinderte Menschen braucht

(Bad Lauterberg 1998)

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
immer stärker verfolgt mich in letzter Zeit ein alptraumartiges Bild: Ein paar Kanuten paddeln verzweifelt die Strömung eines Flusses hinauf. Sie kommen nicht voran. Vielmehr treibt sie die Gewalt des Wassers immer weiter flußabwärts, zu den Stromschnellen, die ihr Schicksal sein werden. So könnte es auch den Mahnern vor der Gentechnologie, der Neo-Euthanasie und der unbeschränkten Verfügung über das eigene Leben gehen. Die Utopie einer Gesellschaft ohne Fehl und Makel hat sich bereits so stark in unseren Köpfen festgesetzt, daß die Propagierung eines Gegenbildes fast als Verbrechen gegen die Menschheit gilt. 

Ich bin gebeten worden, im Rahmen dieser Veranstaltung ein Referat zu halten zum Thema "Warum unsere Gesellschaft behinderte Menschen braucht". Wie der Titel besagt handelt es sich beim Objekt meiner Überlegungen um zwei Pole, die mir gleich wichtig sind: um Menschen, die eine Behinderung aufweisen, und um die Gesellschaft als Ganzes, das heißt die Pluralität einer Gemeinschaft, in welcher das behinderte Individuum nur ein Mosaikstein unter anderen ist, allerdings ein unentbehrlicher, wie ich fest überzeugt bin. Um Ihnen meine Haltung begreiflich zu machen, möchte ich zuerst von jenen Erfahrungen und Erlebnissen berichten, die zu meiner heutigen Einstellung beigetragen haben. Da war zunächst einmal vor vielen Jahren ein Religionslehrer. Durch einen schlimmen Unfall wurde er querschnittgelähmt und war seither - in diesem Sonderfall kann man  wohl ausnahmsweise den nachfolgenden Ausdruck verwenden - an seinen mächtigen Elektrorollstuhl gefesselt. Er war anscheinend mit sich und der Umwelt unzufrieden. Ich gebe zu, ich schätzte ihn nicht besonders. Seine Haltung zum Leben schien der meinen zu konträr, so daß ich mich immer wieder zur Opposition herausgefordert sah. Aber eines Tages hörte ich diesen Mann einen Vortrag halten, der mir nicht mehr aus dem Kopf gehen sollte. Er führte, vielleicht in überzogener, aber doch überzeugender Weise, seinen Zuhörern vor Augen, daß der Geistigbehinderte in Wirklichkeit all jene Tugenden und Qualitäten in sich vereint, die wir beim sogenannten Nichtbehinderten meist vergeblich suchen: Toleranz, Spontanität, Ungekünsteltheit, Fehlen von Konkurrenzdenken, belassen wir es bei diesen Werten.

Der zweite Ansatz, der mich prägte, war eher theoretischer Natur. In ihrem Modell zur Krisenbewältigung stellt Erika Schuchardt, Professorin an der Universität Hannover, in Anlehnung an Carl Friedrich von Weizäcker, die These auf: "Der Behinderte braucht die Gesellschaft, doch auch die Gesellschaft braucht den Behinderten." Die Sonderpädagogin sieht dies vor allem auf dem Hintergrund eines angeblichen Vorbildcharakters des Menschen mit einer Behinderung für den nicht sichtbar Betroffenen. Ich und mit mir viele meiner Schicksalsgefährten, lehnen eine solche Überhöhung ab. Aber der Gedanke, daß behinderte Menschen nicht nur Nehmende sind, sondern durchaus etwas zu geben vermögen - nicht im Sinne von Dankbarkeit, sondern als Qualität, die spezifisch dem Behindertsein innewohnt - erschien mir ein Ansatz, den es sich weiter zu verfolgen lohnt. 

Als drittes steht da das Referat von Fredi Saal, dem schwerstbetroffenen Cerebralparetiker, der anläßlich des Kongresses "Selbstbestimmtes Leben" des Bundesverbandes für Spastisch Gelähmte und andere Körperbehinderte 1990 die Auffassung vertrat, die Gesellschaft brauche keineswegs den Behinderten. Behinderte Menschen seien auf der Ebene der Gesellschaftspolitik ein Luxus. Saals Argumentation ging dahin, daß der Ansatz des "Gebraucht-Werdens" an sich bereits ein fataler logischer Fehlschluß sei. Menschliche Existenz dürfe nur aus sich selbst heraus begründet werden, nicht aber mittels des Rückgriffs auf einen Nutzen für andere. Wenn nämlich der Nutzen wegfiele, stünde auch das behinderte Leben zur Disposition. Das hört sich einleuchtend an, das hat den Vorteil, daß ich in keine Argumentationsnot gerate. Aber so verlockend diese Auffassung ist, kann ich mich ihr leider doch nicht anschließen. Für mich ist jeder Mensch ein "Homo Soziosus" und kann als solcher nicht losgelöst vom Ganzen, dessen Teil er ist, gesehen werden. Die Idee von der Autonomie des Individuums ist ein typisch auf den europäisch-abendländischen Kulturraum bezogenes Phänomen, das sich darüber hinaus in seiner jetzigen Form erst in den letzten Jahrhunderten seit der Aufklärung und der Französischen Revolution entwickelt hat. Unter anderen Zivilisationen, bei anderen Weltreligionen bezieht der Einzelne seinen Stellenwert viel stärker aus seinem Verhältnis zur Gemeinschaft. Anders ausgedrückt: Fredi Saal verteidigt die Existenz behinderten Daseins, indem er der Auseinandersetzung zwischen Individuum und Gesellschaft ausweicht und sich auf eine strikt individualistische Position zurückzieht. So hoch ich Fredi Saal schätze, so sehr ich in ihm den profundesten Denker aus dem Personenkreis behinderter Menschen sehe, so dezidiert muß ich zu dieser Haltung eine Gegenstellung beziehen. In einem gebe ich allerdings Fredi Saal recht: "Brauchen" - im oberflächlichen Sinne von Produktivität oder zur Beruhigung eines wie immer gearteten Gewissens - in diesem Sinne braucht die Gesellschaft den behinderten Menschen tatsächlich nicht. Aber ich bin davon überzeugt, daß Behinderung eine Funktion in unserem Wertesystem einnimmt, die nicht ersatzlos gestrichen werden kann. 

Als ich vor einiger Zeit auf einem Reha-Kongreß einen Vortrag mit ähnlichem Titel wie dem heutigen hielt, erfuhr ich ziemlich rasch scharfen Widerspruch. Offensichtlich meinten die Kritiker fälschlicherweise, ich wolle die Gemeinschaft der Krüppel propagieren und die Forderung aufstellen, behinderte Kinder sollten absichtlich in die Welt gesetzt werden. Das ist natürlich Unsinn. Wir brauchen nicht vorsätzlich behinderte Menschen zu erzeugen. Mit den Auswirkungen der Umweltvergiftung, dem kriminellen Verkehrsverhalten, dem Medikamentenmißbrauch ist die steigende Zahl behinderten Lebens ohnedies vorprogrammiert. Was uns in den nächsten Minuten beschäftigen soll, ist vielmehr die Frage, wie wir mit existierendem Leben in seiner behinderten Daseinsform umgehen, welchen Stellenwert wir ihm beilegen, worin wir seine Funktion sehen, bzw. ob wir überhaupt eine solche erkennen, und ob es richtig ist, alle möglichen Mechanismen in Gang zu setzen, um eine "behindertenfreie Welt" zu schaffen. 

Wie Sie vielleicht wissen, bin ich Schriftsteller, Schauspieler, Akademiker, hauptamtlicher Redakteur einer Fernsehsendung und einiges andere mehr. Aber wenn ich irgendwo zitiert werde, wenn ein Artikel über mich in der Presse erscheint, heißt es in der Regel stets "der Behinderte", "der Schwerbehinderte", "der Schwerstbehinderte". Es ist dies ein ganz typisches Phänomen, nicht nur bei mir sondern bei Menschen mit einer Behinderung allgemein. Neben allen anderen Eigenschaften, und zum Großteil sie überlagernd, steht eben die Behinderung. Sie färbt alle Aussagen, welche über die Person gemacht werden, selbst dort, wo sie von keinerlei Belang wäre. Dem entspricht dann auch die sprachliche Gepflogenheit, das substantivierte "der Behinderte" oder "die Behinderten" zu verwenden statt eine Wendung wie "der behinderte Mensch", "der behinderte Bürger" oder "Menschen mit einer Behinderung". Mit dem Attribut Behinderung in der substantivierten Form ist der ganze Mensch erfaßt, unabhängig von seinen wirklichen individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten. Man mag diese sprachwissenschaftlich orientierte Betrachtungsweise für Beckmesserei ansehen, doch bestimmt die Sprache weitgehend unsere Denkweise, wie bereits der Sprachwissenschaftler Benjamin Lee Whorf erkannte, so daß der Umgang mit Worten durchaus Aufschluß über unsere innere Einstellung zu geben vermag.

Wie wirkt sich solch eine perspektivische Verzerrung in der Praxis aus? Ich darf die Beispiele wieder aus meiner eigenen Biografie nehmen, nicht weil diese besonders interessant wäre, sondern weil man die eigene Erfahrung am authentischsten wiederzugeben vermag. Wenn ich auf der Bühne stehe, oder besser sitze, sieht der traditionelle Kritiker, wie gesagt, zuerst meine Behinderung. Er läßt sich lange über das Thema "Behinderte Darsteller auf der Bühne" aus, wobei sehr häufig die Angst vor dem Einbrechen der Wirklichkeit in den Kunstraum Theater zum Ausdruck kommt. Meine darstellerische Fähigkeit, sei sie nun positiv oder negativ, wird kaum erwähnt, wobei mitunter sogar offen behauptet wird: "Dieser Schauspieler ist nicht rezensierbar", oder aber sie wird überschwänglich gefeiert. Umgekehrt erhalte ich, als selbst Betroffener, bei meiner Tätigkeit im Behindertenbereich einen Bonus, der mir von Rechts wegen eigentlich nicht zusteht. So promovierte ich z.B. in Romanistik/Germanistik, wurde aber bei der Bewerbung als Fachreferent für Französisch an der Münchner Volkshochschule abgelehnt, während man mir trotz eigentlich fehlender Vorbildung das Fachreferat für Behindertenerwachsenenbildung an derselben Institution unbesehen anvertraute. Behinderte Menschen haben so zu sein, wie sie sich die nichtbehinderte Umwelt vorstellt. Nur dann haben sie eine Chance, im Leben einigermaßen unbeschadet davonzukommen.

Ernst Klee, der engagierte Frankfurter Journalist, hat einmal vor etlichen Jahren das Bild des idealen Musterkrüppelchens so gezeichnet: "Lieb, dankbar, ein bißchen doof, leicht zu verwalten". Wenn man sich nun genauer umschaut, trifft man häufig tatsächlich auf behinderte Menschen mit derartigen Charakterzügen. Heißt dies, daß Klees Horrorszenarium der Wirklichkeit entstammt? Nicht unbedingt. Es bedeutet nur, daß die auf Hilfe Angewiesenen sich den Erfordernissen angepaßt haben. Der mündige, ichbewußte behinderte Bürger ist, trotz entgegenlautender Beteuerungen, für die meisten Mitmenschen nicht der Idealfall. Vielmehr wird er zum Stein des Anstoßes. In seiner relativen Selbstsicherheit stellt er die eigene Daseinsform auf eine Stufe mit derjenigen des sogenannten Nichtbehinderten. Dies wiederum bedeutet eine Infragestellung der Normen und Werte unserer heutigen Gesellschaft, die ja fast ausschließlich von nichtbehinderten Menschen geprägt werden. Wer aber will schon die eigenen Grundsätze hinterfragt sehen? Daß darüber hinaus aus einem innerlich selbständigen Hilfebedürftigen weniger Selbstwertgefühl für den Helfer zu ziehen ist als von einem völlig Abhängigen, kommt erschwerend hinzu.
Vielleicht werden Sie nun versucht sein, mich selbst als Gegenbeweis gegen meine These anzuführen. Löcke ich nicht wider den Stachel? Bin ich nicht der Prototyp des emanzipierten Behinderten? Ich sehe mich keinesfalls in dieser Rolle. Ich spiele in diesen Tagen am Wiener Burgtheater Kafkas "Bericht für eine Akademie", die Geschichte des Affen Rotpeter, der nur durch äußerste Anpassung an die Menschenwelt sich einen Ausweg aus der Gefangenschaft seines Käfigs sichern kann, nicht die Freiheit, ich wiederhole, nur einen Ausweg. Diese Darstellung hat sehr viel mit mir und meiner Biografie zu tun. Indem ich Leistungsprinzipien, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen meiner Umwelt quasi interiorisiert habe, gelingt es mir, einen Freiraum zu erkämpfen, der fatal an jene Autonomie erinnert, welche die Hofnarren des Mittelalters und der Renaissance genossen. Auch ihre Bewegungsfreiheit war letztlich durch die Erwartungen des Souveräns eingeschränkt. Sie durften, ja sie mußten sogar, das Gewissen des Herrschers wachhalten. Hätten sie nicht ihre Rolle als witzige Mahner gespielt, wären sie ihrer Ausnahmestellung verlustig gegangen. Doch hatte diese Funktion auch ihre Grenzen, so daß selbst Zwerge in Ungnade fallen konnten. Auf meine eigene Position übertragen: Wenn ich nicht meine Aufgabe als "Sand im Getriebe der Welt" wahrnähme, würde kaum einer auf mich achten. Würde ich jedoch andererseits bestimmte ungeschriebene Gesetze ignorieren, die ich besser nicht aufliste, wäre die Chance meiner Einflußnahme im öffentlichen Leben vertan. Öffentlichkeitsarbeit im Behindertenbereich zu machen, ist in diesem Sinne immer ein Lavieren zwischen Szylla und Charybdis. Ich stelle, ich glaube ich darf dies wohl ohne Übertreibung sagen, in gewisser Hinsicht eine Ausnahme dar. Ich werde geachtet, respektiert, ja beinahe entbehindert. Man legt mir den Titel "Nichtbehinderter honoris causa" bei. Wie anders wären sonst Formulierungen zu verstehen wie: "Man vergißt ganz, daß Sie behindert sind" oder "Sie können doch gar nicht mit anderen Behinderten verglichen werden". All dies soll ein Kompliment sein - ich verkenne es nicht - und doch zeugt es davon, daß man einen Menschen nicht in seiner ganzen Dimension toleriert, zu der eben auch die Körperlichkeit gehört. 

Es steht außer Zweifel - und ich will es hier bewußt kraß formulieren - der sogenannte Nichtbehinderte betrachtet den behinderten Mitmenschen als eine Art Fehlmuster der Natur. Wie sonst ließe sich das Bemühen erklären, eben diese Natur zu überlisten, indem man gewissermaßen vor dem Produktionsausstoß die defekten Stücke analysiert, sie aussondert und auf diese Weise gar nicht erst in den Handel kommen läßt. Auch deuten sich bereits Möglichkeiten an, bei nachweislich fehlerhafter Konstruktionszeichnung das ganze Modell einzuziehen oder durch Korrekturen des Plans den Ist-Zustand dem Soll-Zustand anzupassen. Verzeihen Sie mir diese zugegeben despektierliche Ausdrucksweise. Die Form, mit der man, zumindest in Deutschland, Fragen genetischer Beratung, des Schwangerschaftsabbruchs oder Gentechnologie behandelt, legt jedoch in der Tat den Vergleich mit Massenprodukten nahe. Kinder werden gewissermaßen gegen Bestellschein angefordert und, wenn sie den Erwartungen nicht entsprechen, kommentarlos zurückgeschickt. Wer Ausschußware (sprich: behinderte Nachkommenschaft) entgegen wohlgemeinter Ratschläge der einschlägigen Fachleute behält, ist an seiner Misere selber schuld und soll sehen, wie er mit der Belastung fertig wird. Es ist sicher keine allzu ferne Utopie, daß Versicherungen ihre Leistungen von den entsprechenden pränatalen Untersuchungen abhängig machen werden und den Konsequenzen, die Eltern aus den Befunden ziehen. Schon heute ist es ja Privatkassen möglich, Behinderungen auszusteuern, zumindest in der Bundesrepublik Deutschland. Mit unserem Ansatz, Leben, insbesondere behindertes Leben, verfügbar zu machen, haben wir den Menschen zu einem Produkt degradiert. Doch wir vergessen dabei, daß wir uns damit gleichzeitig selbst den Warencharakter anheften.

Auf einem Kongreß, den ich vor kurzem besuchte, bemühte sich ein Professor zu erklären, daß einerseits zwischen der angeblich legitimen Diskussion über die Schwangerschaftsunterbrechung bei eugenischer Indikation sowie der Frage der Nichtbehandlung schwerstbehinderter Säuglinge gemäß den Einbecker Empfehlungen und andererseits der Achtung vor der Menschenwürde behinderter Erwachsener keinerlei Zusammenhang bestünde. Hier muß ich mein Veto anmelden. Die Ablehnung gegenüber behinderten Gliedern in unserer Gesellschaft beruht auf der Angst vor allem Fremdartigen und dies von der Geburt an. Sie ist deshalb in einer Linie mit Ausländerhaß, Antisemitismus und aufkeimendem Nationalismus zu sehen. Es ist sicher kein Zufall, wenn wir heute parallel die Wiedergeburt einer lange Zeit als überkommen angesehenen faschistoiden Ideologie erleben und eine Renaissance der Idee der Euthanasie. 

Welchen Stellenwert könnte also die Existenz behinderten Daseins in einer Gesellschaftsstruktur einnehmen, in der anscheinend kein Platz für es vorgesehen ist? Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem behinderten Mädchen, das mir einmal sagte: "Wo ich nicht gerne gesehen bin, gehe ich weg." Ich erwiderte darauf: "Für einige Menschen wäre dann die konsequente Schlußfolgerung der Griff zum Revolver." Ich glaube, wir haben die Aufgabe, für unseren Platz in der Gesellschaft zu kämpfen, nicht nur für uns selbst sondern auch, und gerade, für die Gesellschaft. Verstehen Sie daher die nachfolgenden Ausführungen bitte nicht falsch, in denen ich über den Wert behinderten Daseins in einer nichtbehinderten Umwelt philosophiere. Ich habe keineswegs die Absicht, eine Verteidigungsrede für uns Behinderte zu halten. Ich will einzig und allein die Abhängigkeiten aufzeigen, die uns entweder gemeinsam ins Verderben oder gemeinsam zur Bewältigung der vor uns liegenden Aufgaben führen. Der Mythos von der Erschaffung der Welt in fast allen Religionen spricht davon, daß am Anfang ein ununterschiedenes Chaos herrschte. Ob es sich um einen Urnebel handelt, eine Finsternis, immer ist es etwas, das keine Konturen hat. Erst durch das Setzen von Unterschieden, von Licht und Dunkel, Wasser und Erde, Pflanze, Tier und Mensch, entsteht aus dem Nichts ein strukturiertes Ganzes. Selbst im Sündenfall wiederholt sich noch einmal dieser Vorgang. Der Griff zur Frucht der Erkenntnis gebiert erst Gut und Böse - auch Gut, das ohne Existenz des Bösen nicht zu definieren wäre. Mancher mag diese Überlieferungen in den Bereich kindlicher Märchen und Fabeln der Vorzeit einreihen. Doch in Mythen verbirgt sich mehr als bloße Phantasterei. Es ist die Erfahrung und das Wissen von Generationen, eingekleidet in eine dichterisch gestaltete Wirklichkeit.

Doch wir brauchen nicht einmal zu den Mythen Zuflucht zu nehmen. Auch die moderne Linguistik führt zu ähnlichen Erkenntnissen. Mehr noch: Die Computertechnik, die man getrost als zweite industrielle Revolution bezeichnen darf, und die unser Weltbild schon heute in entscheidendem Maße beeinflußt, basiert ausschließlich auf dem Prinzip der Opposition. Was nicht 0 ist, ist 1; was nicht 1 ist, ist 0. Auf unser Thema angewendet: Es gäbe keine Gesundheit, kein Wohlbefinden, keine Unversehrtheit des Körpers, wenn es nicht auch das Gegenteil gäbe. Ist dies nicht ein sehr billiger Trost für behinderte Menschen, lediglich den Grund abzugeben für die Existenz der nichtbehinderten, für das Bewußtsein ihrer selbst als unversehrte Wesen? Das Verhältnis ist nicht so eindimensional, wie dies auf den ersten Blick scheinen mag. Gewiß ermöglicht der Mensch mit Behinderungen seinem Gegenpart die Identifizierung als einer mehr oder minder intakten Einheit, aber der umgekehrte Rückschluß ist ebenfalls möglich - ja, er wird tagtäglich vollzogen. Einen Teil seines Selbstverständnisses gewinnt das behinderte Individuum aus seiner Opposition zum Nichtbehinderten, ob zu seinem Nutzen, das steht auf einem anderen Blatt. 

Doch nicht nur das "Normale" wird durch das "Aus-der-Norm-Fallende" unterstrichen. Behindertsein ist eine Chance der Fortentwicklung. Dabei will ich mich gar nicht auf die Sensationsmeldung stützen, die vor kurzem in der Weltpresse Schlagzeilen machte. Am Anfang des Menschengeschlechtes soll danach - wie zwei Wissenschaftler herausgefunden zu haben glauben - ein behinderter Affe gestanden haben. Nicht eine besondere Intelligenz sondern ein genetischer Fehler habe seinen aufrechten Gang auf zwei Beinen verursacht. Dieses als Drohgebärde aufgefaßte Verhalten soll andere Affenmännchen abgeschreckt und dem behinderten Artgenossen eine ungestörte Annäherung an das weibliche Geschlecht ermöglicht haben. Der aufrechte Gang wurde somit weiter vererbt und zur Voraussetzung für die Überlegenheit des Homo sapiens über die restliche Kreatur. Ein Behinderter am Anfang der Menschheitsgeschichte - eine faszinierende Idee. Doch selbst wenn diese Theorie nicht zutreffen würde, Behinderung spielt eine entscheidende Rolle in der Entwicklung des Menschengeschlechtes. Ohne Mutation kein Fortschritt. Aber sieht die Gesellschaft dies auch so? In ihren Augen ist alles, was von der herkömmlichen Norm abweicht, "anormal" und daher behindert. So gilt jemand, der eine Hand mit sechs Fingern hat, als behindert, obwohl ihm der sechste Finger durchaus hilfreich sein könnte. Contergangeschädigte legen häufig mit ihren Füßen eine derartige Geschicklichkeit an den Tag, daß sogenannte Nichtbehinderte sie deswegen beneiden könnten. Dennoch spricht niemand von der Behinderung der Füße von Nichtbehinderten. Ich erinnere mich noch gut an die Worte des Zahnarztes aus meiner Kindheit. Er meinte, es werde einmal eine Zeit kommen, wo Leute wie ich gefragt seien: möglichst wenig Körper, dafür umso mehr Kopf. Ein hartes Urteil, aber heute vielleicht durchaus realitätsnah. Die Natur versucht sich in vielfältigen Mutationen. Manche führen in eine Sackgasse; manche aber bringen die Menschheit ein gutes Stück voran.

Doch was bedeutet "voranbringen"? Um beurteilen zu können, was Fortschritt ist und was Rückschlag, müßte man einen objektiven Überblick über das gesamte System besitzen. Was sich aus meiner Perspektive als positiv darstellt, ist möglicherweise im übergeordneten Sinne negativ. Erlauben Sie mir ein simples Beispiel. Ich nehme mich selbst. Als ich mit einer Knochenkrankheit geboren wurde, war dies für meine Eltern natürlicherweise etwas äußerst Negatives. Sie hatten ihre individuell geprägten Erwartungen, und die wurden nun gründlich enttäuscht. In einem übergeordneten Sinne wiederum war meine Behinderung positiv einzuordnen. Ohne sie wäre ich vermutlich ein farbloser 08/15-Mensch geblieben, der sich kaum um weitergesteckte Aufgaben gekümmert hätte. Doch auch diese Interpretation ist noch nicht endgültig. Spinnen wir unsere Phantasie etwas weiter. Es könnte sein, daß durch eben diese Aktivitäten Schaden entstünde. Ich hoffe es selbstverständlich nicht, aber nehmen wir es einfach an. Nehmen wir an, durch von mir ausgelöste Unruhen müßten Menschen sterben. Wäre es dann nicht besser gewesen, ich wäre nicht auf die Welt gekommen? Doch auch hier müssen wir noch nicht stehen bleiben. Es wäre vorstellbar, daß die Überbevölkerung der Erde eine Dezimierung der Menschen geradezu wünschenswert erscheinen ließe. Ich darf den Gedankenweg abkürzen. Er könnte wahrscheinlich noch über etliche Ebenen weitergeführt werden. Da uns nicht gegeben ist, Einblick in die Gesamtheit aller Perspektiven zu erlangen, oder wenigstens in die oberste, allumfassendste, können wir letztlich auch keine Aussage darüber machen, ob etwas tatsächlich positiv oder negativ für unsere Entwicklung ist. Ich will nicht behaupten, daß unsere Welt die beste aller denkbaren Welten ist, wie dies Leibniz und seine Nachfolger taten. Aber ich bezweifle, ob eine Ordnung, die menschlicher Konstruktion entstammt, wesentlich besser wäre.

Kehren wir zurück zur Frage, warum Behindertsein so wichtig für eine funktionierende Zivilisation ist. Zwei Aspekte wurden bereits erwähnt: die Hilfe zur Selbstdefinition und der Faktor der Weiterentwicklung. Die entscheidende Begründung steht aber noch aus. Ich glaube, und damit knüpfe ich an jenen behinderten Lehrer an, von dem ich am Anfang sprach, daß im Schwerstbehinderten uns das entgegentritt, was Menschsein überhaupt bedeutet. Ich sage dies nicht, weil ich selber betroffen bin. Vielmehr gehöre ich überhaupt nicht zu jener Gruppe von Personen, die ich unter dem Begriff "Schwerstbehinderte" einreihe. Im Gegensatz zu ihnen, kann ich die Herausforderung meiner nichtbehinderten Umwelt annehmen, mir stehen soundsoviele Möglichkeiten offen, die jenen, die hier gemeint sein sollen, abgehen. Vorausschicken muß ich allerdings eine Prämisse, die Sie mit mir teilen mögen oder nicht. Können Sie es nicht, wird es leider keine Verständigung zwischen uns geben. Für mich sind schwerstbehinderte Menschen, unabhängig vom Außmaß ihrer Beeinträchtigung, Menschen und unterscheiden sich als solche von der übrigen Kreatur. Ich betone dies, weil eben diese Vorgabe von Peter Singer, dem bekannten australischen Ethikprofessor nicht akzeptiert wird. Dieser billigt nur Wesen die Qualität "Mensch" zu, die ein Bewußtsein von sich selbst haben und Gegenwart und Zukunft als bestimmbare Größen erkennen. Ich betrachte hingegen als Mensch alles, was aus der Vereinigung zweier menschlicher Samenzellen hervorgeht - und zwar in seiner Ganzheit, nicht als Einzelteile genommen. Ich sage absichtlich nicht "vom Menschen geboren". Sie wissen selbst, welche Möglichkeiten heute die moderne Medizin zur Verfügung hat, um menschliches Leben im Reagenzglas zu erzeugen, oder von Leihmüttern austragen zu lassen. Ob es sich dabei immer um richtige Wege handelt oder nicht vielleicht eher um riskante Sackgassen, bleibe dahingestellt. Gleichzeitig ist für mich aber auch jeder Mensch eine Person, Person im ursprünglichen Sinne des Wortes von "personare" = durchtönen, durch eine Maske hindurchklingen. Was es ist, das hier hindurchklingt, die Seele, die Ebenbildhaftigkeit Gottes, steht mir nicht zu zu definieren. Aber es ist etwas, was dem Menschen auch in seiner eingeschränktesten Form etwas Einmaliges gibt. Damit wären wir bei unserer Frage: Was ist das Menschliche am Menschen? 

Wenn man in der Naturwissenschaft ein Problem lösen will, versucht man eine Laborsituation herzustellen, in der man nach und nach alle Begleiterscheinungen eliminiert, die vom Kern der Sache ablenken. Ähnliches wollen wir nun auch mit dem Menschen tun, wobei ich freilich nicht den Eindruck erwecken will, als würde ich Schwerstbehinderte nur als Experimentierobjekte betrachten. Gehen wir davon aus, daß sich der Mensch durch irgend etwas, das ihn vom Tier unterscheidet, als Mensch definiert. Versuchen wir nun, wie bei einer Artischocke all jene Schalenblätter zu entfernen, die nicht das Typische des Menschen ausmachen. Fragen wir uns schließlich, wer oder was an Menschlichem als Kern einer solch entblätterten Artischocke übrigbleibt. Eine gängige Behauptung lautet, der Mensch sei mit Intelligenz begabt. Dies unterscheide ihn vom Tier. Aber welche Intelligenz ist damit gemeint; Ist Albert Einstein menschlicher als Mutter Teresa, weil er vielleicht einen höheren IQ aufweist? Intelligenz, nach IQ gemessen, kann es wohl kaum sein, was dem Menschen sein Menschsein gibt. Haben wir aber erst einmal die fragliche Qualität der Intelligenz als Bewertungsmaßstab ausgeschlossen, und zwar auf allen Ebenen menschlicher Erscheinungsformen, so kann sie auch nicht in Sonderfällen herangezogen werden, d.h. wir dürfen auch keinen Unterschied machen zwischen sogenannten geistigbehinderten und nichtbehinderten Menschen. Wie sieht es mit gewissen körperlichen Fähigkeiten aus? Die Antwort liegt auf der Hand. Würde körperliche Leistung den Ausschlag geben, müßten Tiere die menschlichsten Kreaturen unter der Sonne sein . Sie sind stärker, schneller, behender als die meisten Angehörigen der Menschenrasse. Produktivität schließlich ist wohl auch nicht des Rätsels Lösung. Sie ist letztlich nichts anderes als eine Kombination aus intellektuellen und körperlichen Fähigkeiten. Werden aber jene Werte für sich genommen als nicht konstituierend für den Menschen angesehen, so kann es auch nicht eine Zusammenfassung von ihnen sein.

Vielleicht erwarten Sie nun, daß ich Ihnen ein Patentrezept präsentiere. Ich muß Sie enttäuschen. Ich kann es nicht. Auch ich selbst weiß keine schlüssige Antwort. Aber ich weiß, daß viele Versuche, Menschsein zu definieren - nicht zuletzt auch jener von Peter Singer - einen verfehlten Weg einschlagen. Würden wir tatsächlich solchen Anschauungen folgen, müßten wir von einer Hierarchie ausgehen: Es gäbe dann Menschen, die stärker das Menschliche verkörpern, und andere, die dies weniger täten. Ein solcher Ansatz widerlegt sich selbst. Man kann nicht nur ein bißchen Mensch sein. Ohne exakt definieren zu können, was das spezifisch Menschliche am Menschen ist, wage ich die Behauptung, daß Schwerstbehinderte den Prototyp dessen darstellen, was wir suchen. Sie reduzieren den Wert des Menschen auf jenen Kern, der durch keine falschen Attribute verstellt wird. Der Schwerstbehinderte kann nicht durch Körperkraft brillieren, durch Intelligenz, durch Leistungsfähigkeit; er tritt nicht in Konkurrenz zu seiner Umwelt. Dennoch ist er - und hierin dürften wohl alle mit mir übereinstimmen - Mensch, besitzt also jenes Undefinierbare, nenne es Seele, nenne es Ebenbildhaftigkeit Gottes, nenne es irgendwie sonst, das ihn aus anderen Kreaturen heraushebt. Immer wieder betone ich, daß es meiner Auffassung nach keine eigentlichen Behindertenprobleme gibt. Die Probleme behinderter Menschen sind allgemein menschliche Probleme. Dadurch, daß sich der Behinderte ihnen quasi unausweichlicher als der Nichtbehinderte stellen muß, werden sie in einer Art Brennglas gebündelt. Prinzipiell gilt dies nun auch für das Menschsein. Ich glaube, die Gesellschaft braucht den Behinderten, um sich die Frage stellen zu können: Was ist der Mensch? Nur hier findet sie einen Ansatz, der nicht verbaut wird durch Nebensächlichkeiten. Je mehr der Suchende seine eigene Position erschüttert sieht, je bereitwilliger er sie sich erschüttern  läßt, desto fruchtbarer kann die Analyse werden. Vielleicht - und ich bin mir bewußt, daß ich hiermit eine sehr kühne Behauptung aufstelle - ist die Sinnfrage unseres Lebens ganz einfach damit zu beantworten, daß wir die Verkörperung einer Idee vom Menschen sichtbar leben sollen. Dies aber würde in besonderer Weise von Schwerstbehinderten erfüllt werden können. Möglicherweise ist ihr scheinbar sinnentleertes Leben gerade deshalb das sinnerfüllteste, weil es seiner eigentlichen Bestimmung am nächsten kommt.

Erlauben Sie mir, diese Betrachtungen mit einer altchinesischen Parabel zu beenden, die vielleicht besser als alle Worte, die wir in den letzten vierzig Minuten gesagt haben, die Quintessenz unseres Problems darstellt. Vor über tausend Jahren, als es noch keine Diskussion über "lebenswertes" und "lebensunwertes" Leben gab, schrieb ein Philosoph den folgenden Text: "Nehmen wir als Beispiel die Erde. Sie ist unendlich groß und weit. Aber der Mensch braucht von all dem nur den Fleck, auf dem er zufällig steht. Nun stelle dir vor, es würde plötzlich alles Erdreich weggenommen, das er im Augenblick nicht braucht, so daß sich um ihn herum ein Abgrund auftut und er im Leeren steht und nichts unter den Füßen hat als zwei, drei Schollen Erde. Was nützte ihm dies winzige Stück? - Huitse sagte: Es nützte ihm gar nichts. - Huangtse schloß: Damit ist erwiesen, wie notwendig das ist, was keinen Nutzen hat."