Peter Radtke

Selbständig machen - selbständig werden

Meine Ausführungen sind die eines behinderten Schriftstellers, nicht die eines Pädagogen oder Psychologen. Wenn ich mich dem Thema "Selbständig machen - selbständig werden" nähere, muß ich also vor allem auf persönliche Erfahrungen zurückgreifen. Ich leide, wobei "leiden" ein unangebrachter Ausdruck ist, an der Glasknochenkrankheit. Meine ersten dreißig Lebensjahre verbrachte ich im Elternhaus, so daß sich die Loslösung oder das Selbständigwerden verständlicherweise schwierig gestaltete. 

Doch betrachten wir zunächst den Begriff "selbständig". Er beinhaltet vor allem die Idee des Selber-Stehens. "Beständig", "standhaft", "Verstand" - fast alle Begriffe, die mit dem Verb "stehen" zusammenhängen, sind positiv gefärbt. Genau umgekehrt verhält es sich mit Ausdrücken, die den Gedanken des Liegens enthalten. Wir kennen die Begriffe "unterliegen", "Niederlage", "niedrig", um nur einige zu nennen. Auch im Rehabilitationsalltag machen wir ähnliche Erfahrungen. Im Medizinischen überwiegt eindeutig eine positive Beurteilung der Vertikalen. Die liegende Position führt leicht zur Lungenentzündung und auch die Muskeln degenerieren bei zu wenig Beanspruchung. Wenn wir also das Stehen als erstrebenswertes Ziel ansehen, müssen wir uns seine Voraussetzungen klar machen. Das Wichtigste hierbei ist das Fundament. Es sollte möglichst breit angelegt sein. 

Versuchen wir, diese Überlegungen auf die Situation Heranwachsender mit einer Behinderung zu übertragen. Häufig ist ihre Selbständigkeit im buchstäblichen Sinne des Wortes eingeschränkt. Wer nicht Herr über die eigenen Gliedmaßen ist, muß entweder auf bestimmte Funktionen verzichten oder sich der Assistenz anderer bedienen. Um Hilfe zu bitten, kostet Überwindung. Möglicherweise bestimmt auch die jeweilige Gemütsstimmung der Hilfskraft, ob zum fraglichen Zeitpunkt eine erbetene Unterstützung gewährt wird. Dies bedeutet nicht nur eine physische sondern auch eine psychische Abhängigkeit des Menschen mit Assistenzbedarf. 

Gleiches gilt für die intellektuelle Seite. Behinderung ist häufig ein Zustand, der nicht nur körperliche Aspekte betrifft. Die Beurteilung von Zusammenhängen und die daraus sich ergebenden Konsequenzen für das eigene Handeln hängen zum Großteil von den geistigen Fähigkeiten des Einzelnen ab. Wo diese aufgrund von Störungen begrenzt sind, muß ein Außenstehender Mitverantwortung tragen. Die Forderung nach Selbstbestimmung stößt hier an ihre natürlichen Grenzen. 
Auch für Angehörige gestaltet sich das "Loslassen" schwierig. Behinderte Menschen werden erwachsen, nur die Eltern nehmen es oftmals nicht wahr. Zwar ist dies für jedes Eltern-Kind-Verhältnis symptomatisch, doch im Fall von behinderten Familienangehörigen kommt ein weiterer Umstand erschwerend hinzu. Im Gegensatz zum nichtbehinderten Jugendlichen kann der Heranwachsende mit einer Behinderung nicht ohne weiteres seine eigenen Wege gehen. Er bleibt im buchstäblichen Sinne des Wortes im Haus und verstärkt damit eine Beziehung, die überaus problematisch einzustufen ist.
In vielen Familien mit einem behinderten Kind kommt es nämlich im Laufe der Zeit zu einer regelrechten Symbiose zwischen der Mutter und dem hilfsbedürften Familienangehörigen. Ich habe z.B. immer gewußt, wann meine Mutter das Haus betrat, obwohl wir im zweiten Stock eines Altbaus wohnten, die Mauern sehr dicht waren, und zweifellos keinerlei definierbare Geräusche mir dieses Wissen vermittelt haben konnten. Diese Wechselverhältnis ist gleichzeitig Vorteil und Nachteil für die weitere Entwicklung des Betroffenen. Sie gibt Kraft, weil sie das Gefühl des Angenommenseins vermittelt; sie hemmt, weil sie die Loslösung erschwert. 

Daß darüber hinaus für Verrichtungen Hilfestellung zu geben ist, die als typisch für bestimmte Perioden der frühen Kindheit gelten, macht den Abnabelungsprozeß für Eltern und Heranwachsende nicht gerade leichter. Als Beispiel sei die Intimhygiene genannt. Während einem Kleinkind die Berührung der Genitalien vielleicht bloß angenehm ist, es aber keinerlei weitergehende Assoziation damit verbindet, liegt der Fall beim pflegeabhängigen Behinderten anders. Ihm ist die Bedeutung dieser Körperregion in der Regel sehr wohl bekannt, und die Berührung bedeutet daher für ihn gleichzeitig Demütigung, die nicht zu vermeiden ist, aber auch eine der wenigen sexuellen Erfahrungen, die der von sozialen Kontakten Isolierte ebenso haßt wie herbeisehnt. So wird ein Abhängigkeitsverhältnis zementiert, das gleichermaßen von anziehenden wie feindseligen Momenten geprägt ist.

Es gibt ein merkwürdiges Paradox: Je besser ein Elternhaus, desto schwieriger der Ablösungsprozeß. In besonderer Weise gilt dies für behinderte Kinder. Je mehr Geborgenheit das Elternhaus vermittelt, desto weniger attraktiv erscheint die Alternative "freie Wildbahn". Gleichzeitig führt ein "gutes Elternhaus" auch zu stärkeren psychischen Abhängigkeiten seitens des behinderten Heranwachsenden. Ein Betroffener wird viel weniger Skrupel haben, sich mit seinen Anschauungen gegen Vater und Mutter durchzusetzen, wenn er nicht ein spezielles Dankbarkeitsgefühl entwickelt hat, weil ihm viel Liebe entgegengebracht wurde. Er findet sich vor dem Dilemma, seinen eigenen Weg mit dem Gedanken an Schuld erkaufen zu müssen, vorausgesetzt er besitzt die geistige Fähigkeit zu derartigen Reflexionen.

Für das eigenständige Stehen war ein breites Fundament vonnöten. Dies gilt im übertragenen Sinne auch für die Entwicklung zur Selbständigkeit von Menschen mit einer Behinderung. Wie aber gelangt man zu solch einem breiten Fundament? Von entscheidender Bedeutung ist gewiß die Selbstsicherheit. Erkenne ich in der Reaktion der Umwelt auf mich Abwehr, sehe ich mich selber negativ. Erfahre ich hingegen Akzeptanz, fällt mir ebenfalls die Akzeptanz leicht. Die Eltern, und hier besonders die Mutter, sind der erste Spiegel, in dem sich das Kind wieder erkennt. Es ist sicher für jedes Elternteil schwer, ein behindertes Kind ohne Wenn und Aber zu akzeptieren. Jegliche Ablehnung, auch wenn sie noch so subtil sein mag, wird vom Betroffenen aufgenommen und verinnerlicht. Ich erinnere mich z.B. sehr gut, daß meine Mutter zwar voll zu mir stand, aber auf der Straße mich immer aufmerksam machte, wenn die Leute mich anstarrten. Hätte ich nicht die Bejahung auf vielfältig andere Weise erfahren, wäre dieser Umstand gewiß nicht ohne Auswirkung auf meine Entwicklung geblieben.

In diesem Zusammenhang muß ich auch auf die Abtreibungsdiskussion eingehen, die gerade in Bezug auf behinderte Föten geführt wird. Es heißt immer wieder, die Entscheidung gegen ein ungeborenes behindertes Kind habe nichts mit einer Entscheidung gegen einen bereits vorhandenen lebenden behinderten Menschen zu tun. So verständlich die Differenzierung von Seiten der Eltern ist, so unübersehbar sind dennoch die Konsequenzen, die sich subjektiv im Selbstverständnis von behinderten Heranwachsenden daraus ergeben. So sagt der schwer behinderte Fredi Saal: "Wer meine Behinderung nicht akzeptiert, akzeptiert mich als Ganzes nicht". Nur rückhaltlose Bejahung menschlichen Daseins, in welcher Erscheinungsform auch immer, wird jenes Fundament gründen können, auf dem Selbständigkeit entstehen kann.
Von nicht geringer Bedeutung für die Entwicklung einer festen Basis ist auch die Vermittlung des Glaubens. Der Marxismus hat das Wort von der "Religion als Opium des Volkes" geprägt. Dahinter steht der Gedanke, der aufgeklärte Mensch habe solche Dinge gar nicht nötig. Es gibt jedoch Situationen, in denen Opium der einzige Weg ist, um Leben überhaupt zu ermöglichen. In solchem Zustand macht Opium frei zum Denken und Handeln. Ein behinderter Mensch, der sich nur auf seine Nichtigkeit zurückgeworfen sieht, kann sich nicht unbefangen in der Gesellschaft bewegen. 

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Beurteilung allgemein gültiger gesellschaftlicher Werte. In einer Familie, in der die Kriterien Leistung, Produktivität, Schönheit, Kraft, kurz Eigenschaften hochgehalten werden, denen behinderte Angehörige nicht entsprechen können, dort läßt sich auch kein Selbstwertgefühl anbahnen, Voraussetzung jeglicher Selbständigkeit. Wie in vielen anderen Bereichen ist auch hier das Vorbild ausschlaggebend für das eigene Befinden.