Peter Radtke

Rehabilitation und Selbstbestimmung

(Logopädenkongress Leipzig 1999)

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
»Am Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott. Und Gott war das Wort«. So beginnt das Evangelium des Johannes. Was für ein Buchanfang! Was für ein Anfang der Erschaffung der Welt! Tatsächlich steht am Beginn der Schöpfungsgeschichte dieses »Es werde«. Erst nachdem der göttliche Wille in Worte gefasst wird, nimmt die Idee Gestalt an. Zuvor herrscht Chaos, eine ungeordnete Wirrnis, eben ein Nichts. Natürlich haben wir es hier mit einem Bild zu tun, dessen Aussage im übertragenen Sinn zu verstehen ist. Aber dennoch, der Gedanke, der dahinter steht, reicht weit über eine bloße religionstheoretische Erwägung hinaus. Fragen wir uns also: Welche Rolle spielt das Wort in der Erschaffung eines Universums? 

Goethe hat seinem Faust Zweifel an der Allmacht des Wortes in den Mund gelegt. Als Faust die entsprechende Passage des Johannesevangeliums übersetzen will, zögert er. Wir lesen: »Geschrieben steht: ›Im Anfang war das Wort!‹ / Hier stock‘ ich schon! Wer hilft mir weiter fort? / Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, / Ich muß es anders übersetzen, / Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. / Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.« Auch hier bleibt Faust nicht stehen. Er grübelt weiter, bis er schließlich die Übersetzung wählt: »Am Anfang war die Tat!« Doch Faust hätte bei der ursprünglichen Übersetzung bleiben sollen. Wie uns die moderne Sprach- und Literaturwissenschaft lehrt, stellen Wörter nicht bloße akustische Ausdrucksformen von Begriffen dar. Sie sind ihrerseits auch immer gleichzeitig sinnstiftend. Dingen eine Bezeichnung zu geben heißt, die Welt neu zu erschaffen, sie sich anzueignen, durch die Benennung sich ihrer bewusst werden. 

Aufbauend auf den Erkenntnissen seines Lehrers Edward Sapir im Umgang mit Indianersprachen, entwickelte der amerikanische Linguist Benjamin Lee Whorf Mitte der Fünfziger Jahre die These vom Zusammenhang zwischen Denken, Sprechen und Perzeption der Wirklichkeit. Er postulierte, dass menschliche Erkenntnis von der Struktur der jeweiligen Sprache abhängt, mit welcher der Einzelne aufwächst. Nehmen wir das Beispiel der Hopi-Indianer. Ihre Sprache kennt keine Unterscheidung von Gegenwart und Vergangenheit. Ihr Stamm unterscheidet nur zwischen Handlungen, die punktuell verlaufen und Handlungen, deren Auswirkung fortdauert. Diese Grammatikvariante findet sich übrigens noch heute in der englischen Verlaufsform, während sie im Deutschen nicht vorkommt. Folglich bewegt sich auch das Denken der Hopi-Indianer nur in Kategorien des Einmaligen und Andauernden. Ihre gesamte Auffassung des Kosmos wird weniger von der Frage geprägt: »Was war? Was ist?«, als vielmehr von der Überlegung: »Reicht etwas aus der Vergangenheit bis heute hinein, dauert es also fort, oder ist es in sich abgeschlossen?« Verkürzt lautet Whorfs These: »Was ich in keiner sprachlichen Ausdrucksform fassen kann, das existiert in meinem Denken auch nicht.« Und umgekehrt: »Die Struktur einer Sprache, Wortschatz, Grammatik, Aufbau, findet ihren Niederschlag in der Art, wie ich die Welt sehe.« Zur Erläuterung muss gesagt werden, dass »Sprache« nicht nur das gesprochene Wort umfasst, sondern sehr wohl auch die Gebärdensprache oder andere Zeichensysteme bedeuten kann. Erlauben Sie mir, dass ich das Gesagte noch etwas weiter ausführe. Während die Eskimos Dutzende von Ausdrücken für die Farbe Weiß benutzen, je nach der Schattierung, in welcher die Sonne auf die Eisfläche fällt, verwenden die Hopi-Indianer hierfür nur einen einzigen Begriff, der darüber hinaus noch andere Farbnuancen umfasst. Hingegen kennen sie eine Vielzahl von Bezeichnungen für Grün, da diese Farbe in ihren Steppen und Wäldern in den verschiedensten Abstufungen vorkommt. Ein Eskimo würde nun vermutlich nicht nur nicht zwischen den Bezeichnungen unterscheiden können; er würde wahrscheinlich überhaupt nicht merken, dass verschiedene Grünschattierungen in seiner Umgebung vorhanden sind. Er ist sich nämlich sprachlich einer Differenzierung nicht bewusst und kann sie daher nicht wahrnehmen. Ähnliche Ansätze, obwohl nicht in gleicher Weise empirisch untermauert, finden sich bereits im 19. Jahrhundert bei Wilhelm von Humboldt. Sie wurden in unseren Tagen im deutschsprachigen Raum von Leo Weisgerber weiterentwickelt.

Was sollen diese sprachwissenschaftlichen Überlegungen, die darüber hinaus in den letzten Jahren unter Linguisten nicht unumstritten geblieben sind? Sie sollen deutlich machen – und dies kann bei aller akademischen Kontroverse über Sapir und Whorf nicht in Frage gestellt werden - dass die Beherrschung unserer Umwelt zum nicht geringen Teil von der Beherrschung der Sprache abhängt. Durch die Sprache erfassen wir die Umwelt gedanklich und wir können Menschen in ihrem Tun beeinflussen. Es fällt gehörlosen Menschen nachweislich schwer, abstrakte Vorgänge zu erfassen. Der Grund: Die Sichtbarmachung von Begriffen, die der Gebärde zu eigen ist, eignet sich schlecht für die Verdeutlichung von Vorgängen, die unsichtbar sind, Je besser sich jemand ausdrücken kann, je virtuoser er das Instrument der Sprache meistert, desto eher wird er andere Menschen dazu bringen, das auszuführen, was er möchte. Was wir mit dem Wort »Charisma« umschreiben, hängt zu einem beträchtlichen Teil, wenngleich nicht ausschließlich, von dem Vermögen ab, durch die Sprache auf jemanden einzuwirken.

Die großen Männer und Frauen der Geschichte überragten in der Regel nicht durch Körperkraft, Schnelligkeit oder andere physische Eigenschaften. Wie konnten sie dennoch zu Lenkern der Geschicke werden? Es war ihre Fähigkeit zu begeistern, durch Reden mitzureißen, durch Sprachbeherrschung zu überzeugen. Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Bedeutung der Sprache im sozialen Kontext können wir auch an der Hierarchie ablesen, die Menschen, je nach ihrem Sprachvermögen, in der Gesellschaft einnehmen. Personen, die eloquent sind, genießen traditionell ein höheres Ansehen als sprachärmere Leute. Dabei ist es ein immer wieder zu beobachtender Irrtum, Beredsamkeit mit Intelligenz gleichzusetzen. So gelten Norddeutsche, und hier insbesondere Berliner, als intelligenter als Bayern, obgleich die entsprechenden Schulabgangsnoten nicht unbedingt diese Vermutung bestätigen. 

Man kennt das Hierarchiedenken auch im Behindertenbereich. Einmal mehr ist die Beherrschung der Sprache, neben dem äußeren Erscheinungsbild und dem Erreichen von Nichtbehindertennormen, ein ausschlaggebendes Kriterium für die Einschätzung eines behinderten Menschen. »Der ist ja dumm«, heißt es, wenn jemand stottert oder als Cerebralparetiker Sprachstörungen aufweist. Menschen, die zu keiner verbalen Kommunikation fähig sind, rangieren in der Werteskala selbst sogenannter Schicksalsgefährten am untersten Ende. Wo solidarischer Gemeinsinn gefragt wäre, wird Differenzierung auf Kosten der Schwächsten betrieben. Doch warum sollten sich Menschen mit einer Behinderung anders verhalten, als nichtbehinderte Personen in ähnlicher Lage?

Wir haben viel über Sprache geredet, während unser Thema doch eigentlich »Selbstbestimmung« lauten müsste. Nach den bisherigen Ausführungen dürfte jedoch schon jetzt deutlich geworden sein, dass Selbstbestimmung auf das engste mit dem Sprach- und Sprechvermögen zusammenhängt. Nicht so sehr, weil ein Mensch ohne solche Fähigkeiten für Selbstbestimmung nicht reif genug wäre. Vielmehr braucht Selbstbestimmung gerade bei schwerstbehinderten Personen Betreuer, Hilfskräfte, Assistenten, die auf die Impulse reagieren, welche vom Selbstbestimmenden ausgehen. Es liegt nahe, dass die Umsetzung der geäußerten Wünsche um so leichter erfolgt, je klarer ein Wille formuliert wird. Die deutlichste Bekundung einer Absicht ist und bleibt in unserer Gesellschaft jedoch die verbale Aussage.

Hinzu kommt das bereits angesprochene unterschiedliche Ansehen der Personen, je nach der Position, die sie in der gesellschaftlichen Hierarchie einnehmen. Wir stellten fest, dass in dieser Werteskala, Menschen mit sprachlichen Defiziten am unteren Ende angesiedelt sind. Wem man nun, bewusst oder unbewusst, wenig Achtung entgegenbringt, wen man nicht für voll nimmt, wer nicht als gleichberechtigter Partner anerkannt wird, dessen Willensäußerungen werden auch nur unwillig respektiert und umgesetzt von denen, die dazu in der Lage sind. 

Wir können geradezu eine Gleichung aufstellen: Wenn Sprachbeherrschung Beherrschung der Umwelt bedeutet und Selbstbestimmung ebenfalls Beherrschung der Umwelt, so verkörpert Sprachbeherrschung folglich in  sich selbst, bis zu einem gewissen Grad, Selbstbestimmung. 

An dieser Stelle ist es wichtig, einen kleinen Exkurs in Sachen Begriffsdefinition zu machen. Sehr häufig werden »Selbstbestimmung« und »Selbständigkeit« oder »Unabhängigkeit« in einem Atemzug genannt. Hier sollte man jedoch sorgsam differenzieren, um die Möglichkeiten des einen Begriffes nicht auf Kosten des anderen unangemessen zu belasten. Für mich sind »Selbständigkeit« und »Unabhängigkeit« durchaus vom Schweregrad einer Behinderung abhängig. Je eingeschränkter eine behinderte Person ist, desto weniger unabhängig und selbständig wird sie ihr Leben gestalten können. Sie hängt von der Hilfe anderer ab; sie kann im übertragenen wie im buchstäblichen Sinne des Wortes nicht allein stehen, sondern braucht die Stütze anderer. »Selbstbestimmung« hingegen ist unabhängig vom Ausmaß der Behinderung. Ich kann vollständig abhängig sein von Menschen oder technischen Geräten und dennoch ein durch und durch selbstbestimmtes Leben führen. 

All dies mag sich sehr theoretisch anhören. Erlauben Sie mir, Ihnen ein Beispiel aus meinem Alltag zu geben. Ich bin verheiratet. Meine Frau ist leicht behindert. Sie führt den Haushalt, sie fährt Auto, sie ist Stellvertretende Direktorin an einer Schule für Körperbehinderte - das heißt: Sie führt ein mehr oder minder unabhängiges Leben, sieht man von der Tatsache ab, dass sie von mir abhängt, wenn sie Probleme mit ihrem Computer hat. Das meiste, was sie kann, ist mir nicht möglich. Sie sehen, dass ich ziemlich behindert bin, zumindest was die Mobilität angeht. Wenn ich ins Büro muss, brauche ich die Hilfe eines Angestellten. Ich kann kein Auto fahren und wenn ich den Haushalt führen sollte, würde in wenigen Stunden unsere Wohnung einem Schlachtfeld ähneln. So führe ich kein unabhängiges Leben, sofern Unabhängigkeit bedeutet, dass ich alles allein tun kann. Aber ich führe sehr wohl ein selbstbestimmtes Leben. »Selbstbestimmung« hat immer etwas mit »Freier Entscheidung« zu tun, mit der Wahl zwischen mehreren Alternativen. Dies aber ist unabhängig von der körperlichen oder psychischen Einschränkung, der ich unterworfen bin. »Selbstbestimmung« - und dies muss das Ziel aller Rehabilitation sein, also auch der Logopädie - das bedeutet, zu lernen, sinnvoll die Ressourcen an Menschen und an technischen Geräten zu nutzen, von denen man abhängt. 

Nach dem Gesagten dürfte klar sein, dass Anbahnung oder Wiederanbahnung der Sprachbeherrschung als wichtige Etappe auf dem Weg, hin zu einer individuellen Selbstbestimmung zu sehen ist. Je deutlicher und unzweifelhafter ein behinderter Mensch seinen Willen zum Ausdruck bringen kann, und am einfachsten gelingt dies natürlich in der sprachlichen Äußerung, desto mehr wird er »Selbstbestimmung« ausüben können.

Dies überträgt dem Logopäden eine Verantwortung, die er in ihrer ganzen Tragweite möglicherweise bisher nur ansatzweise erkannt hat, wenn überhaupt. Bei der Wiedergewinnung der Sprache nach einem Schlaganfall, einer Krankheit oder einem Unfall, bei der Erstanbahnung der Sprechfähigkeit bei Gehörlosen oder Sprachgestörten geht es um mehr als nur um den Aufbau einer Kommunikationsebene. Es handelt sich um wesentliche Bestandteile eines Entwicklungsprozesses, der den ganzen Menschen einschließt und der ihm die Möglichkeit gibt, als autonomes Wesen gegenüber seiner Umwelt aufzutreten. Dieses Mehr an Verantwortung, das dem Logopäden gewissermaßen ungewollt zufällt, manövriert ihn gleichzeitig in eine Machtposition, von der ich nicht weiß, ob er sich ihrer tatsächlich gewachsen erweist.

Betrachten wir jedoch zunächst die Bedeutung der »Selbstbestimmung« für das Leben von Menschen mit einer Behinderung. Dies ist deshalb nötig, weil für sogenannte Nichtbehinderte ein selbstbestimmtes Leben quasi zur Grundausstattung ihres Daseins gehört. Es ist wie beim Atemholen; man denkt nicht mehr darüber nach, das man es tut. Es geschieht, ohne dass man es überhaupt merkt. Natürlich ist Selbstbestimmung kein absoluter Wert an sich. Andere Zivilisationen haben andere Lebensvorstellungen. Doch wir können nur von unserm eigenen Kulturraum ausgehen. Für uns ist Selbstbestimmung der eigentliche Grund zur Lebensfreude. Ohne Selbstbestimmung können wir unser Leben nicht genießen, sondern wir sind dazu verurteilt, es zu erdulden. Niemand, sei er nun alt, behindert oder gebrechlich, kann ohne Selbstbestimmung leben, wenn er sich nicht aufgeben will. Beobachten wir nur, wie sehr sich ein kleines Kind über das An- und Ausknipsen eines Lichtschalters freut. Es kann überhaupt nicht mehr damit aufhören. Durch diese Handlung gewinnt es Macht über Helligkeit und Finsternis. Dies wiederum stärkt in ungeahntem Maße sein Selbstwertgefühl. Im Fall von Menschen mit einer Behinderung muss es nicht einmal der Betroffene selbst sein, der eine Handlung vollzieht. Wir sprachen bereits vom Unterschied zwischen »selbstbestimmt« und »selbständig«. Wie wir gesehen haben, genügt es schon, dass ein anderer nach dem Wunsch des Selbstbestimmenden handelt. Schon dies vermittelt das Gefühl humaner Würde, das jedem menschlichen Wesen zusteht. Vielleicht mag dies als Gegenargument gegen die Thesen eines Ethikprofessors Peter Singer taugen, der die Ansicht vertritt, Tiere seien mitunter höher einzustufen als schwerstbehinderte Menschen. Selbstbestimmung ist der Beweis, dass Geist über Materie obsiegt, und dass auch in extremer Lebenssituation, eingeschränktes Dasein noch durchaus lebenswert sein kann. 

Ich habe von der Machtstellung gesprochen, die dem Logopäden in diesem Zusammenhang zufällt. Jeder Therapeut im Behindertenbereich befindet sich gegenüber seinem Klienten in einer Position der Überlegenheit. Die enge Verflechtung der Sprache mit der Ausübung der Selbstbestimmung hebt jedoch den Logopäden in besonderer Weise aus der Masse der übrigen Rehabilitationskräfte heraus. Er vermittelt jenes Rüstzeug, das den höchsten Anteil an einer wirkungsvollen Selbstbestimmung hat. Da seinem Gegenüber aber gerade dieses Instrumentarium fehlt bzw. Defizite aufweist, läuft auch der Logopäde Gefahr, den gleichen Irrtümern zu unterliegen, die auch für andere gelten. In der Bezeichnung »Logopäde« steckt neben der bereits besprochenen Wurzel »logos«, Wort, Vernunft, Sprache, auch der Wortstamm »päd-«, Kind, Jugend, Knabe. Der Wortteil »-pädie« in einem Substantiv kann dreierlei Inhalte ausdrücken, die aber offensichtlich in engem Zusammenhang gesehen werden: »Heilkunde«, »Wissen«, »Erziehung«. 

Heilen – Wissen – Erziehen. Der Arzt bzw. der einem medizinischen Beruf Nahestehende wird also in gewisser Weise dem Erzieher, dem Lehrer, dem Pädagogen gleichgesetzt. Der Orthopäden z.B. ist derjenige, der die Kenntnis über den Bewegungsapparat besitzt, Fehlhaltungen korrigiert, aber auch Anleitung zum richtigen Gehen gibt. Ganz ähnlich sieht es mit dem Logopäden aus. Er weiß um die richtige Anbahnung der Laute, kennt die Artikulationsschwierigkeiten und hat das Instrumentarium, dieses Wissen zum Nutzen des Patienten einzusetzen. »Zum Nutzen« – Und hiermit sind wir bei der eigentlichen Problematik unseres Themas. Wer definiert den Nutzen des Patienten? Im Falle des Pädagogen, der Lehrkraft in einer Schule, ist die Situation relativ einfach. Der Jugendliche selbst kann zwar nur sehr beschränkt seinen eigenen Nutzen erkennen. Es fällt dies umso schwerer, je jünger das Kind ist. Doch jedes Kind wird ein Erwachsener, so dass sich aus den Wertevorstellungen der Erwachsenen rückblickend der Nutzen des Vermittelten auch für den minderjährigen Schüler ableiten lässt. Dies ist zwar nicht immer und überall zutreffend, dürfte sich aber in den meisten Fällen als richtig erweisen. 

Doch ein Behinderter, insbesondere ein erwachsener Behinderter, ist kein Kind. Er ist ein Mensch, der im allgemeinen sehr wohl weiß, was ihm nützlich ist. Auch verändert er sich in der Regel nicht, so, wie sich ein Kind zum Erwachsenen hin entwickelt. Das heißt: Behindert zu sein ist kein Durchgangsstadium. Es ist eine Lebensform, die zwar nicht freiwillig gewählt wurde, die aber dennoch einen Teil der Existenz ausmacht. Behinderte Menschen sind keine kranken Menschen, obwohl es Grenzbereiche gibt, wo sich Behinderung und Krankheit überlappen. Ich denke dabei an die sogenannten chronischen Erkrankungen bzw. an progrediente Formen der Behinderung. Menschen mit einer Behinderung sind auch keine Patienten im herkömmlichen Sinne. »Pati«, ist der lateinische Begriff für »leiden an«. Dies tun wir meist weniger wegen unserer körperlichen Verfassung als vielmehr wegen gewisser Diskriminierungen und der Tatsache, dass wir allzu oft nur als Objekt therapeutischen Handelns gesehen werden statt als selbstbestimmendes Subjekt in einer Interaktion zwischen Therapeut und Betroffenem. 

Das zuletzt Gesagte mag einigen Anwesenden vielleicht seltsam erscheinen. Sie haben es wahrscheinlich vor allem mit Aphasikern zu tun, die infolge eines Schlaganfalls Einbußen ihrer Sprach- und Sprechfähigkeit erlitten haben. In dieser Lage, in welcher der Betroffene von einem auf den anderen Tag seiner Selbstsicherheit beraubt und auf der anfangs erwähnten Hierarchieleiter um viele Stufen nach unten geworfen wird, gibt er tatsächlich nicht selten das Bild eines unselbständigen Kindes ab, eines Menschen, der Führung bedarf, ja diese geradezu erwartet. Es fällt dem Logopäden dann gewiss schwer, in einem Gegenüber, das nur mit größter Mühe einen vernünftigen Satz herausbringt oder einen Gegenstand benennen kann, einen ebenbürtigen, gleichberechtigten Partner zu erkennen. Ich unterschätze es nicht, dass in einer solchen Konstellation ein beträchtliches Maß an Selbstbeherrschung dazu gehört, die Machtposition, die einem mehr oder minder unfreiwillig in den Schoß fällt, nicht fremdbestimmend zu benutzen.

Welches sind aber die Instrumente der Fremdbestimmung? Da wäre zunächst einmal das Wissen, das der professionellen Fachkraft eine Überlegenheit verleiht, die sie beinahe unangreifbar gegenüber dem Logopädiebedürftigen werden lässt. Schon ein geflügeltes Wort sagt: Wissen ist Macht. Medizinisch gesehen, weiß der Patient in der Regel weniger über das, was mit ihm geschieht, oder welche Maßnahmen ergriffen werden könnten, als der Spezialist. Dies macht ihn nicht nur abhängig von der Person, die das Wissen hat und ihm gegebenenfalls helfen kann, sondern es unterminiert auch sein Selbstwertgefühl. Es ist dies ein einfacher Vorgang. Wenn jemand mehr über mich weiß als ich selbst, werde ich unsicher, verliere den Boden unter den Füßen, stehe nicht mehr voll hinter meinen eigenen Entscheidungen, da ich ja nicht weiß, ob nicht wichtige Fakten für diese Entscheidungen mir unbekannt sind. Der erste Schritt in Richtung auf die Selbstbestimmung des Patienten muss also lauten, ihn mit so viel Information zu versorgen, dass er tatsächlich das Gefühl der Ebenbürtigkeit mit dem Logopäden hat. Der Logopäde soll seine Arbeit als Begleitung verstehen, nicht aber unbedingt als Führung.
Neben der Macht des Wissens ist ein zweiter entscheidender Faktor für die Fremdbestimmung die Macht der Mehrheit. Wie die meisten Fachkräfte in der Rehabilitation gehört der Logopäde, wenn er nicht ausnahmsweise selbst betroffen ist, dem Personenkreis der sogenannten Nichtbehinderten an. Diese bilden 90 % der Gesellschaft und stellen damit die Standards und Normen, denen sich unser Sozialgefüge verpflichtet fühlt. Selbst wo Fremdbestimmung nicht direkt und offen ausgeübt wird, wirkt die Normerwartung im Sinne einer nicht zu hinterfragenden zusätzlichen Autorität des Experten. Nur in den seltensten Fällen taucht ein Zweifel an den Wegen und vor allem dem Ziel der Therapeutin oder des Therapeuten auf. Schließlich steht er oder sie auch als Person für die Werte, die den meisten Patienten als das eigentlich Erstrebenswerte erscheinen. Aber was wäre daran so schlimm? Ist nicht Rehabilitation die weitestgehende Herstellung oder Wiederherstellung eines dem Nichtbehindertensein angenäherten Zustandes?

Tatsächlich müssen wir uns einen Augenblick mit dem Begriff der »Rehabilitation« befassen. Was ist Rehabilitation und wie ist ihr Verhältnis zur Selbstbestimmung? 

In der Microsoft Encarta Encyclopädie 99 lesen wir: »(Wieder)eingliederung körperlich, sensorisch, emotional oder anders behinderter Personen in den Arbeitsprozess und die Gesellschaft. Rehabilitationsmaßnahmen zielen zu allererst auf die Fähigkeit zur Bewältigung des Alltags.« Das Kosmos-Kompaktlexikon 99 definiert: »Rehabilitation = Wiedereingliederung sozial, geistig oder körperlich benachteiligter Personen in Familie, Beruf und Gesellschaft. Im engeren Sinn medizinische Maßnahmen zur Vorbeugung, Linderung und Beseitigung gesundheitlicher Störungen mit dem Ziel der Wiedereingliederung.« Und schließlich verbindet das »Bertelsmann Discovery Lexikon 97« die Definition mit einer Wertevorstellung: »Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit und Gesundheit eines durch Krankheit und Unfallfolgen Geschädigten, um ihn in jeder Hinsicht (körperlich, geistig, seelisch) wieder zu einem vollwertigen Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu machen und es ihm insbesondere zu ermöglichen, seinen erlernten Beruf wieder auszuüben.« 
Alle drei Autoren sehen das Ziel der Rehabilitation primär in einer Verbesserung des Verhältnisses des behinderten Menschen zu seiner Umwelt und zur Gesellschaft. Das reibungslose Funktionieren in einem System steht im Vordergrund, mehr denn das Wohlbefinden des Betroffenen. Rehabilitation in diesem Sinne verstanden, liegt daher vor allem im Interesse der Gesellschaft, was nicht heißt, dass sich das Interesse des Patienten und jenes der Gesellschaft unbedingt widersprechen müssten. Es wurde ja bereits erläutert, in welchem Ausmaß behinderte Menschen häufig ihnen auch nicht adäquate Werte der sogenannten Nichtbehinderten verinnerlichen. Doch macht es einen Unterschied, wem sich der Therapeut in erster Linie verpflichtet fühlt. Ist sein Tun eine Aufgabe, die ihm von der Gesellschaft aufgetragen ist, oder sieht er sich als eine Art Serviceleister für den Patienten? Wenn sich der Therapeut als Vollstrecker einer gesellschaftlichen Aufgabe versteht, wird er im Konfliktfall nicht unbedingt die Partei der Selbstbestimmung des Patienten ergreifen. Die zuvor angesprochene Partnerschaft zwischen Patient und Therapeut stellt sich als Scheinpartnerschaft heraus, die nur solange hält, als beide Seiten dieselben Intentionen verfolgen. Kann es jedoch überhaupt zu Konfliktsituationen kommen? Sind nicht die Ziele des Logopäden und des Logopädiebedürftigen ohnedies deckungsgleich? In der Regel mag dies der Fall sein. Doch haben wir durchaus auch Beispiele für das Gegenteil.

Als ich vor rund zwanzig Jahren mit der Behindertenarbeit begann, überraschte mich am meisten das Verhalten gehörloser Menschen. Sie wollten sich absolut nicht in das mir bekannte Integrationsmodellschema einpassen. Dass jemand nicht die Eingliederung in die Nichtbehindertenwelt anstrebte, wenn man ihm dazu Hilfe anbot, war mir zunächst völlig unverständlich. Erst langsam und gegen eigene innere Widerstände setzte ich mich mit ihrer ungewohnten, letztlich aber durchaus nachvollziehbaren Sichtweise auseinander. Sie wollen nicht in ein System integriert sein, bei dem sie auf Schritt und Tritt mit ihren Defiziten konfrontiert werden. Sie fordern die Anerkennung ihrer Gebärdensprache als primäres Kommunikationsmittel, nicht aus Sturheit sondern weil die Sprache der Hörenden für sie eine auferzwungene Fremdsprache ist. Sie nützt ihnen weder zur Verständigung untereinander noch in der Mehrzahl der Fälle zum ungehinderten Austausch mit der Umwelt. Mit welchem Recht verlangen wir, die Hörenden, von den Gehörlosen, dass diese ausschließlich in unserer Kommunikationsform mit uns Kontakt pflegen? Wir sprachen von der Macht der Mehrheit. Wir könnten vielleicht sogar von der Macht eines latenten Rassismus sprechen. Wir zwingen ihre Kinder in der Schule nach unseren Vorstellungen zu lernen und weisen dennoch jeden Gedanken von Fremdbestimmung weit von uns. Wir sind nicht nur Mehrheit, wir stehen auch dank unseres Sprachvermögens auf der Werte-Hierarchieleiter ganz oben. Das gibt uns das Recht über Menschen und Schicksale zu bestimmen, oder wir handeln zumindest so, als ob wir dieses Recht hätten.

Vielleicht bin ich mit den letzten Anmerkungen ein wenig über das Ziel hinausgeschossen. Auch sind die Logopäden nicht diejenigen, die für solche Vorgänge verantwortlich gemacht werden dürften. Doch sollte uns das Beispiel sensibler dafür machen, wie rasch Rehabilitation - und damit auch die Logopädie - von einem Instrument zur Erlangung der Selbstbestimmung zu einem Unterdrückungswerkzeug der Fremdbestimmung degenerieren kann. Im Gegensatz zur offiziellen Behindertenpolitik der Europäischen Gemeinschaft und im Widerspruch zum Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation, die Gesundheit viel breiter definiert als nur das Gegenteil von Krankheit – ich zitiere: »Zustand vollkommenen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheiten und Gebrechen« – wohnen wir heute einer wieder verstärkt naturwissenschaftlich orientierten Sichtweise von Behinderung bei. Nach meinem Dafürhalten birgt dies die Gefahr, dass man einmal mehr die Ganzheit des Phänomens aus dem Blick verliert. Ohne mich in die inneren Angelegenheiten der Logopäden einmischen zu wollen, was ich schon mangels ausreichender Kenntnis nicht kann, fürchte ich, dass die beabsichtigte Akademisierung der Logopädie in eine ähnliche Richtung weist. 
Als Wegbegleiter zu einem Mehr an Selbstbestimmung haben Sie, sehr verehrte Logopädinnen und Logopäden, eine schwierige Gratwanderung zu meistern. Sie haben Sprache anzubahnen, aber nicht zu erzwingen; sie müssen sich auf einen Teilaspekt des Menschen konzentrieren und dürfen dennoch nicht die Ganzheit aus dem Blick verlieren; sie sollen in Theorie und Praxis auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnisse stehen und bei alledem nicht der Reduzierung auf rein naturwissenschaftliche Kriterien erliegen. Ich wünsche Ihnen und uns allen, dass Ihnen diese wahrlich nicht beneidenswerte Aufgabe in vollem Maße gelinge.