Peter Radtke

Humangenetik - Was bringt sie für Behinderte

(Bad Lauterberg 1998)

Die Maßnahmen

von Erich Fried

Die Faulen werden geschlachtet
die Welt wird fleißig
Die Häßlichen werden geschlachtet
die Welt wird schön
Die Narren werden geschlachtet
die Welt wird weise
Die Kranken werden geschlachtet
die Welt wird gesund
Die Traurigen werden geschlachtet
die Welt wird lustig
Die Alten werden geschlachtet
die Welt wird jung
Die Feinde werden geschlachtet
die Welt wird freundlich
Die Bösen werden geschlachtet
die Welt wird gut.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Es gibt einschlägige Vorschriften, wie man Referate zu beginnen hat. Da heißt es, man solle zunächst seiner Freude darüber Ausdruck verleihen, daß man zu diesem oder jenem wichtigen Thema vor einem fachkundigen Publikum sprechen darf. Es tut mir leid, ich muß an dieser Stelle feststellen, daß es mir keinesfalls Freude bereitet, über die Gentechnologie und ihre möglichen Entwicklungen zu referieren, weder bei Ihnen noch sonst irgendwo. Vielmehr erfaßt mich tiefe Niedergeschlagenheit. Schon seit etlichen Jahren verfolgt mich nämlich ein Bild wie ein Alptraum: Ein paar Kanuten paddeln verzweifelt die Strömung eines Flusses hinauf. Sie kommen nicht voran. Vielmehr treibt sie die Gewalt des Wassers immer weiter flußabwärts, zu den Stromschnellen, die vermutlich ihr Schicksal sein werden. So könnte es auch den Mahnern vor der Gentechnologie gehen. Die Utopie einer Gesellschaft ohne Fehl und Makel hat sich bereits so stark in unseren Köpfen festgesetzt, daß die Propagierung eines Gegenbildes fast als Verbrechen gegen die Menschheit angesehen wird. "Wollen Sie etwa Leiden und Schmerz zu Qualitäten hochstilisieren?", "Sind Sie ein Masochist oder ein verrückter Fanatiker?", so ungefähr lauten die Reaktionen, wenn ich meine Bedenken immer wieder lautstark formuliere. Oft frage ich mich: "Warum tue ich es überhaupt?" Natürlich kann man mit solchen Warnungen bei seinen Gesprächspartnern dann auf offene Ohren stoßen, wenn diese ihre eigenen Rechte in Frage gestellt sehen, wenn es um Probleme des Datenschutzes geht, um die Verfügbarkeit von Untersuchungsergebnissen für Arbeitgeber, Versicherungen und staatliche Behörden, wenn sich herausstellt, daß bestimmte Personengruppen ausgegrenzt werden, denen sie überraschenderweise selbst angehören. Aber die Grundhaltung, daß dies alles doch im Grunde positiv sei, wenn nur der Mißbrauch verhindert werden könne, dies scheint außer Zweifel zu stehen. Doch beginnen wir beim Anfang! Fragen wir uns, was Genforschung für die Menschheit überhaupt bedeutet.

"Gott hat es gegeben, Gott hat es genommen, der Name des HErrn sei gelobt." Diese Maxime prägte jahrhundertelang das christlichabendländische Denken. Gewiß kam es auch in früheren Zeiten vor, daß man sich einen männlichen Erben wünschte, daß man auf gesunde Nachkommen hoffte, daß es klare Vorstellungen gab über die ersehnte Zahl der Kinder. Für solche Wünsche nahm man Wallfahrten auf sich, opferte Kerzen, legte Gelübde ab, ja riskierte selbst mehr oder minder verbotene Handlungen. Auch kam es vor, daß mit Makel behaftete Nachkommenschaft, wie uneheliche Geburten, Mädchen oder mißgestaltete Säuglinge, getötet oder ausgesetzt wurden. Trotzdem blieb der Eingriff in die Natur ein Tabu, an dem man in der Regel nicht rüttelte. Selbst wo es geschah, handelte es sich stets um eine individuelle Problemlage, die nichts mit der Umlenkung menschlicher Entwicklung zu tun hatte. Die Erforschung von Krankheiten hielt sich bis zum 18./19. Jahrhundert in eng umrissenen Grenzen. Von Abstammung und Vererbung war noch wenig bekannt. Erst der Einblick in die biologische Gesetzmäßigkeit der Generationenfolge, für den die Namen Darwin und Mendel stehen, und der fast parallel damit verlaufende Autoritätsverlust von kirchlicher und religiöser Bindung führte zu einem Wandel in der fatalistischen Haltung gegenüber natürlichen Vorgängen. Der Mensch begann Krankheiten zu besiegen, die bisher als unbesiegbar galten; er erkannte Bazillen und Viren und wie man ihnen begegnet; er stellte schließlich fast zwangsläufig das System der unabänderlichen Erbgutweitergabe in Frage.

In der Theorie hatte man sich schon lange eine Welt ohne Leiden und in immerwährender Glückseligkeit ausgemalt. Die entsprechenden einschlägigen Utopien der Dichter und Philosophen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Weltliteratur. Dies beginnt beim biblischen Mythos des Paradieses und dem griechischen Äquivalent des "Goldenen Zeitalters", setzt sich fort in der Beschreibung des sagenhaften Atlantis, findet seine Ausformungen in Platons "Politeia", Rabelais' Abtei Thélème, Campanellas "Sonnenstaat" oder der "Utopia" des Thomas Morus und reicht bis zu den Visionen vom edlen Wilden, wie sie das 18. Jahrhundert prägten und selbst noch in Rousseaus "Contrat Social" ihre Spuren hinterlassen haben. Doch daß solche Vorstellungen tatsächlich in die Nähe einer Realisierung gelangen konnten, dazu bedurfte es die zuvor angesprochene Entwicklung auf biologisch-medizinischem Gebiet. Vielleicht war es tatsächlich die erschreckende Erkenntnis der Machbarkeit von Zuständen, die bisher als Phantastereien erschienen, die im 20. Jahrhundert erstmals auch negative Utopien entstehen ließen. Es kam zu Büchern wie Orwells "1984", Zamjatins "Wir" und die für unser Thema vielleicht treffendste literarische Bearbeitung, Aldous Huxleys "Schöne neue Welt".

Aber bedeuten diese jüngsten Zeugnisse der Literatur, daß man die Gefahr wirklich erkannt hat? Ein inhumaner Staat, ein mörderisches System, Usurpatoren, die den Menschen seiner selbst entfremden, so sieht die Horrorvision des 20. Jahrhunderts aus. Trifft dies aber tatsächlich zu? Nicht administrative Zwänge bestimmen die Neigung zum genetischen Perfektionismus, wie er sich heute bereits als Abbild der negativen Utopien in der Wirklichkeit erahnen läßt. Die Wurzeln dieser Grundhaltung liegen im einzelnen Individuum. Es erschreckt mich mitunter, wenn ich mich im Einklang mit erzkonservativen Anschauungen wiederfinde, doch ich kann nicht umhin klar zu sagen: Man hat begonnen, das eigene Leben und das seiner Nachkommen verfügbar zu machen - bei der Geburt, beim Tode, ja sogar noch vor der Geburt. Man glaubte damit, den freien Willen des Menschen zu demonstrieren. Doch damit hat der Mensch, meiner Meinung nach, keinesfalls ein Mehr an Lebensqualität gewonnen. Im Gegenteil dieses Leben wurde seines Wertes entleert. Es ist vielleicht ein problematischer Vergleich, aber dennoch möchte ich ihn wagen: Ein Geschenk, das ich erhalten habe, wird hundertmal mehr wert sein als jeder noch so teure Gegenstand, den ich mit eigenem Geld erwerbe. Indem ich kaufe und verkaufe erniedrige ich den Gegenstand zu einer Ware. Waren haben ihren Wert, lassen sich in Mark und Pfennigen abschätzen. Ein Geschenk kann niemals objektiv taxiert werden. Weit mehr als sein realer Wert zählt sein symbolischer. Ein Geschenk hat immer einen Sinn; der Geber hat sich etwas dabei gedacht, selbst wenn das Geschenk beim Beschenkten anders ankommt, als es der Schenkende ursprünglich beabsichtigt. Aber sehen wir das Leben überhaupt noch als Geschenk? Sind wir noch überzeugt, daß hinter dem Geschenk ein Schenkender steht? Einige unter Ihnen werden mich nun vielleicht der Unsachlichkeit beschuldigen und mich zur Rückbesinnung auf die Objektivität aufrufen. Gerade diese beiden Begriffe halte ich jedoch im Zusammenhang mit den hier anstehenden Fragen für äußerst problematisch. Der Mensch ist eben nicht Objekt, Sache, sondern Subjekt - und soll dies auch bleiben. Ihn als Objekt zu behandeln und dies sogar als einzig angemessene Verfahrensmethode auszugeben, scheint mir symptomatisch fürdie gegenwärtige Diskussion über Gentechnologie, aber auch über Abtreibung, Neo-Euthanasie und Sterbehilfe.

Damit sind wir, wie ich meine, bereits an einem zentralen Punkt unserer Überlegungen angelangt. Tatsächlich scheint unser heutiges Denken sein philosophisches Zentrum verloren zu haben. Es stimmt nicht, daß Marx tot ist und Jesus lebt, wie dies so öffentlichkeitswirksam ein deutscher Politiker formuliert hat - ich glaube es war Norbert Blüm. Marx ist tot, Jesus ist tot; auch der Glaube an die positive Fortentwicklung der Wissenschaft oder die moralische Vervollkommnung des Menschen verleiht keine neuen Impulse. Demokratie ist zwar eine Methode des politischen Zusammenlebens, aber kein philosophischer Anker. Der Anker ist gekappt, das Schiff treibt steuerlos dahin. Nicht "der Mensch ist Maß aller Dinge", wie dies bei den Griechen galt, denn ein einheitliches Menschenbild existiert nicht mehr, sondern das einzelne Individuum. Wir bewegen uns momentan in einer Landschaft isolierter Interessen, ein Zustand, der letztendlich nicht befriedigen kann, weil die Bindung an einen Rahmen fehlt. Mit anderen Worten: Wir haben zunächst das Leben zu einer verfügbaren Sache gemacht, über die wir, als Einzelne, individuell entscheiden. Dies aber kann nur eine Übergangsphase darstellen. Ich wage die Prognose, daß sich das Individuum über kurz oder lang der Bürde seiner Alleinentscheidung wieder entledigen, nach neuen Leitbildern Ausschau halten wird, nach Richtlinien, die ihm die Verpflichtung der ausschließlichen persönlichen Wahl abnehmen. Wissen wir, ob es sich dabei nicht um Vorstellungen handelt, wie sie in Huxleys "Schöne neue Welt" aufgezeigt wurden?

Einen ersten Schritt in diese Richtung bedeutet für mich schon heute die Institution der Genetischen Beratungsstellen. Keiner wird bestreiten, daß eine Hauptaufgabe dieser Einrichtungen darin liegt, Ratsuchende über das Risiko erbbedingter oder durch andere Faktoren verursachter Behinderungen aufzuklären. Darüber hinaus sind sie Anlaufstelle für einen eventuellen Schwangerschaftsabbruch. Wenn ich den Begriff "aufklären" verwende, so ist dies lediglich eine euphemistische Umschreibung für "warnen". Schon die dringende Empfehlung an alle Spätgebärenden, eine Genetische Beratungsstelle aufzusuchen, macht deutlich, welche Funktion dieser Einrichtung zugedacht ist. Auch wenn sich die Verantwortlichen der entsprechenden Institutionen vehement dagegen wehren: Es geht bei der Beratung um nicht mehr und nicht weniger als um die Verhinderung behinderten Lebens. Dies sei zunächst ohne jede Polemik angemerkt. Wer dies bestreitet, müßte nämlich die Gegenthese vertreten: Genetische Beratungsstellen sollen nicht das Risiko von Behinderungen verringern. Ich kann mir kaum vorstellen, daß irgendjemand in diesem Kreis einer solchen Aussage zustimmen würde. Zwar wird von den Fachkräften immer wieder die freie Wahl der Eltern in Fragen einer Schwangerschaft bzw. auch des eventuellen Schwangerschaftsabbruchs betont, doch scheint mir dies nur eine Scheinargumentation. Wer wüßte nicht, welch schockierende Wirkung die Mitteilung hat, man müsse mit der Geburt eines behinderten Kindes rechnen? Wieviele Menschen haben tatsächlich genügend praktische Erfahrung mit Behinderten, um objektiv abschätzen zu können, was es bedeutet, ein Leben mit Behinderung zu begleiten, wieviele Schmerzen zwar, aber auch wieviele Freuden mitunter damit verbunden sind? Ist nicht die Diskriminierung behinderter Menschen in unserer Gesellschaft trotz abgeflachter Bürgersteige und noch so gut gemeinter Sondereinrichtungen überall sichtbar? Behinderung hat einen absolut negativen Stellenwert, wie sich an den verschiedensten Beispielen nachweisen läßt. Nehmen wir nur das bekannte "Erlanger Baby", das von einer medizinisch toten Frau ausgetragen werden sollte. Weil man annahm, daß es sich um einen gesunden Säugling handeln würde, tat man alles, um die Schwangerschaft erfolgreich zu beenden. Hätte man hingegen im Laufe der Beobachtung eine Behinderung festgestellt, wären die Maschinen sofort abgestellt worden. Dann hätte es sich lediglich um den Abbruch einer Behandlung gehandelt. Wie Sie wahrscheinlich alle wissen, hat die Natur diese Entscheidung den Ärzten abgenommen. Unter solchen Begleiterscheinungen die freie Wahl der Eltern zu postulieren, grenzt wahrhaft an Zynismus.

Ich höre bereits die Vorwürfe der Verteidiger Genetischer Beratungsstellen, ich würde hier etwas unterstellen, was nie und nimmer beabsichtigt sei. Wir befänden uns nicht im Dritten Reich, wo Rassenhygiene höchste Priorität besaß. Dies ist zweifellos richtig. Dennoch läßt sich nicht übersehen, daß offizielle Stellen, die von staatlichen Geldern leben, auch von diesen staatlichen Zuschußgebern abhängen. Wenn heute die Sozialpolitik glücklicherweise tatsächlich nicht - noch nicht - in Kategorien der Eugenik denkt, heißt dies nicht, daß man auf immer vor einem Meinungsumschwung sicher sein kann. Wie stark ist irgendwann einmal die Lobby von Arbeitgebern und Versicherungskonzernen, bestimmte Erkrankungen zu unterbinden, wenn die Möglichkeit hierzu besteht? Wird die Schwächung unseres sozialen Netzes derartigen Vorgehensweisen nicht geradezu Vorschub leisten? Ist es wirklich nur das Hirngespinst einzelner Phantasten, wenn davor gewarnt wird, daß Eltern, die ein behindertes Kind trotz entsprechender "Information" durch die Genetische Beratungsstelle zur Welt bringen, in einigen Jahren selbst für daraus entstehende Kosten aufkommen müssen? Schon heute können private Versicherungen Behinderungen und ihre Auswirkungen aus ihrem Leistungskatalog ausschließen. Die Reform des Gesundheitswesens, die in einigen Punkten hoffentlich wieder rückgängig gemacht wird, zeigt, in welche Richtung behinderte Menschen und chronisch Kranke in Zukunft denken müssen. Genetische Beratungsstellen sind finanziell anfällig und staatliche Gelder werden bestimmt nicht gegen die Interessen des Staates gegeben.

Abgesehen von solchen Fragen äußerer Beeinflussung, gebrauchen Ärzte und Humangenetiker selbst den Begriff "Risiko", wenn es um die Frage von Behinderungen geht. Man braucht kein Literaturwissenschaftler zu sein, der ich von meiner Ausbildung her bin, um die negative Assoziation analysieren zu können, die sich hinter dieser Wortwahl verbirgt. Auch die Tatsachen sprechen für sich. Während es in unserem Land verhältnismäßig schwierig ist, aus sozialer Indikation heraus einen Schwangerschaftsabbruch zu erwirken, gibt es keine Hindernisse, wenn es um die Abtreibung behinderten Lebens geht. Eine ähnliche Ungleichbehandlung läßt sich übrigens auch auf anderen Gebieten feststellen. So wird dem Wunsch nach Sterilisation bei behinderten Menschen in der Regel wesentlich schneller entsprochen als bei sogenannten Nichtbehinderten, ja häufig wird die Unfruchtbarmachung sogar von außen an den Betroffenen herangetragen. Während der Gebrauch künstlicher Verhütungsmittel normalerweise auf die strikteste Ablehnung kirchlicher Kreise stößt, teilt man solche Medikamente in Behindertenheimen selbst katholischer Trägerschaft sehr wohl aus, um "Schlimmeres zu verhüten", wie es heißt. Homosexualität und Onanie werden in unserer Gesellschaft unterschiedlich gewertet, je nachdem, wer sie ausübt. Wo keine Nachkommenschaft erwünscht ist, sind in dieser Hinsicht "ungefährliche" Praktiken der Sexualität durchaus willkommen. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Das Resultat bleibt stets das gleiche: der Schutz vor neuem behinderten Leben. 

Heißt dies, daß ich Genetische Beratungsstellen generell ablehne? Sicher nicht! Es geht mir einzig und allein darum, ihnen die Funktion zuzuweisen, die ihnen rechtens zukommt: Rat zu geben jenen, die ratlos sind, nicht indem man den Lauf der Natur vorausbestimmen oder ändern will, sondern indem man die Hilfesuchenden in der vielleicht größten Herausforderung ihres Lebens begleitend unterstützt. Wegbegleitung ist angesagt, nicht Veränderung des Weges. Begleitung bedeutet aber für mich Information über das Wesen von Behinderungen, Kontaktherstellung zu Selbsthilfegruppen, vorbereitende Einführung in den Umgang mit behinderten Säuglingen und Kleinkindern. Die Beratungsstelle hätte meiner Meinung nach die auch Aufgabe, während der Schwangerschaft und danach soziale Hilfestellung zu geben, wie z.B. die Abnahme von Behördengängen und die psychologische Weiterbetreuung der betroffenen Angehörigen. Jeder kann in die Lage kommen, behinderte Kinder zur Welt bringen. Je besser er darauf vorbereitet wird, desto weniger wird er von den Ereignissen überrollt. Daher meine ich, daß der Umgang mit eventuellen Behinderungen eine Vorbereitung für jedes junge Ehepaar sein müßte, ähnlich wie die Schwangerschaftsgymnastik, eine gesunde Ernährung oder ähnliche übliche Vorbeugemaßnahmen. Vorsorgeuntersuchungen sind nötig, aber sie hätten, meines Erachtens, lediglich den Zweck, die Gesundheit von Mutter und Kind zu schützen und Behinderungen in einem möglichst frühen Stadium zu erkennen. Hierin sehe ich keinesfalls einen Widerspruch zu meiner anfangs aufgestellten Thesen. Selbstverständlich muß es in unserem Interesse liegen, die Nachteile, die einem behinderten Kind durch eben diese Behinderung entstehen, so gering wie möglich zu halten. Daher sind alle notwendigen gymnastischen Übungen, Hörschulungen oder andere Präventionsmaßnahmen zum frühest denkbaren Zeitpunkt anzubahnen. Es ist jedoch ein Unterschied, ob ich einem behinderten Menschen in seiner Lebensbewältigung beistehe, d.h. ob ich "Ja" sage zu diesem Leben, oder ob ich es überhaupt nicht zur Entfaltung eines solchen Lebens kommen lasse.

Was ich von den Genetischen Beratungsstellen gesagt habe, trifft natürlich in noch weit stärkerem Maße auf die Entwicklung der modernen Gentechnologie zu. Zwei Aspekte sind hier vor allem zu behandeln. Sie stellen unterschiedliche Seiten ein und desselben Problems dar: die immer weitreichenderen Einblicke der Genomanalyse und die Fähigkeit, genetisches Material im Hinblick auf nachfolgende Generationen zu verändern. Die Möglichkeit, Behinderungen zu erkennen zu einem Zeitpunkt, da sie noch nicht sichtbar in Erscheinung treten - ja mehr noch, ehe überhaupt eine Befruchtung stattgefunden hat - ist eine Chance und eine Gefahr zugleich. Die Chance besteht darin, den Träger oder seine Angehörigen rechtzeitig auf den Ernstfall vorzubereiten, und zwar sowohl psychisch als auch physisch durch entsprechende therapeutische Maßnahmen. Die Gefahr ist einmal mehr, das Wissen um die Behinderung als Waffe gegen den Träger einzusetzen. Vertreter einer radikalen Behindertenbewegung haben hierfür das Schlagwort geprägt: In Wirklichkeit bekämpfe man nicht die Behinderung sondern den Behinderten. Nicht alle Menschen mit einer Behinderung, insbesondere nicht jene mit einer erblich bedingten Erkrankung, teilen meine grundlegende Skepsis gegenüber der Gentechnologie. Ihnen muß ich in Erinnerung rufen, daß ein Großteil von ihnen heute nicht am Leben wäre, wenn die Vorstellungen, die sie unterstützen, faktisch zur Ausführung gelangten. Durch die Genomanalyse ist es heute möglich, einzelne Behinderungsarten als Risikofaktor schon vor der Empfängnis zu bestimmen und gegebenenfalls die erforderlichen Gegenmaßnahmen einzuleiten. Ist dies wirklich in jedem Fall ein Segen? 

Was bringt es mir oder meinen Angehörigen, wenn ich weiß, daß mich in fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig Jahren irgendein heimtückisches progressives Leiden dahinrafft? Kann ich nicht möglicherweise schon vor dieser Zeit durch einen Unfall oder eine beliebige andere Krankheit sterben? Wird nicht mein Leben in einer fast unmenschlichen Weise durch das Wissen um das nahe Ende belastet? Vielleicht existiert bis zu meinem angeblichen Todestag sogar ein Medikament, das die heutigen Befürchtungen grundlos werden läßt. Es gibt ein schönes deutsches Sprichwort: "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß." So dumm solche Volksweisheiten mitunter auch sind, so zutreffend scheinen sie mir im vorliegenden Fall zu sein. Was als Hilfe für den Menschen gedacht ist, verkehrt sich zu seinem Nachteil. Mozart starb mit 35, Kleist wurde knapp 34, Georg Büchner erreichte ganze 25 Jahre. Hätten sie bereits im Vorhinein von ihrem frühen Tod gewußt, wer weiß, ob sie die Kraft zu ihren Meisterwerken aufgebracht hätten. Nun ist nicht jeder ein Kleist, ein Mozart oder ein Büchner, und nicht jede Behinderung bricht erst mit 35 Jahren aus. Wie steht es mit Muskeldystrophien oder anderen Erkrankungen, die dem Betroffenen eine wesentlich kürzere Lebenszeit lassen? Wäre hier die Genomanalyse nicht eher gerechtfertigt? Es ist nicht meine Aufgabe, Patentrezepte zum besten zu geben. Jeder Fall ist ein Individualfall und sollte als solcher behandelt werden. Doch auch hier möchte ich klar zwischen vorausschauender und stützender Analyse unterscheiden. Wenn es darum geht, dem Betroffenen und seinen Angehörigen Hilfe in der Bewältigung ihres schweren Schicksals zu geben, sollten alle Kenntnisse der Wissenschaft eingesetzt werden, um diesem Ziel näherzukommen. Wo es jedoch nur darum geht, die Grenzen des Erforschbaren auszuloten, wo der biologisch-genetische Forscherdrang sein Objekt aus dem Blick verliert, dort ist höchste Vorsicht geboten. Ohne daß wir uns versehen, beherrscht nicht mehr der Mensch die Wissenschaft, sondern die Wissenschaft den Menschen. Aus dem Herrn ist ein Sklave geworden, die Maschinerie hat sich verselbständigt.

Manches, was ich bisher gesagt habe, hätte auch von jedem anderen vorgebracht werden können. Ich sitze jedoch hier vor Ihnen als Betroffener und nehme als Betroffener zum Thema "Genetik" Stellung. So erlauben Sie mir, etwas zu meiner eigenen Person anzumerken, subjektiv - zweifellos, aber deshalb nicht weniger treffend. Als ich geboren wurde, gab es noch keine Genomanalyse, keine pränatale Diagnostik und keine Genetische Beratungsstelle. Aber es gab dicke Lehrbücher und Prognosen, die für bestimmte Krankheitsverläufe unumstößlich schienen. So wurde meinen Eltern fast noch im Kreißsaal brutal eröffnet, ihr Kind würde kaum die nächsten vierzehn Tage überleben. Bei der schweren Form von Osteogenesis imperfecta, an der ich litt, verböte sich jede Aussicht auf Besserung. Am klügsten sei es, sich auf mein baldiges Ableben gefaßt zu machen und ansonsten auf weitere, gesunde Kinder zu hoffen. Was ich hier etwas flapsig vortrage, war für meine Eltern bittere Tragödie. Was wäre geschehen, wenn sie den Worten der sogenannten Fachleute geglaubt hätten! Glücklicherweise taten sie es nicht. Andernfalls hätte ich nämlich nie jene Zuwendung bekommen, die es mir möglich machte, die schwierigen ersten Lebensjahre zu überstehen, die von über hundert Knochenbrüchen gekennzeichnet waren. Der Glaube an mich und meine Überlebenschance, der Kampf um meine Existenz, gerade in der düsteren Zeit der Euthanasie, liegt am Beginn dessen, was man als ein ungewöhnliches Schicksal bezeichnen kann. Und greifen wir noch etwas weiter zurück: Hätte es damals bereits die Genomanalyse gegeben, wäre ich überhaupt nie auf die Welt gekommen. Meine Eltern hätten sicher kaum "Ja" gesagt zu einem Leben, das man ihnen in solch düsteren Farben schilderte. So viel Heldenmut läßt sich selbst von tapferen Menschen nicht erwarten. 

Bei alledem bin ich, trotz meines vielleicht außergewöhnlichen Werdeganges, kein Einzelschicksal. Als langjähriger Vorsitzender der "Gesellschaft für Osteogenesis imperfecta ", also der Selbsthilfegruppe meiner eigenen Behinderungsart, weiß ich von vielen ähnlichen Beispielen, die sich noch heute, fast in identischer Weise wiederholen. Die Auskunft "kaum überlebensfähig", der Kampf der Eltern gegen Theorie und sogenanntes Fachwissen, die Arroganz und Ignoranz von Kapazitäten, die noch nie einen erwachsenen Osteogenesis imperfecta Patienten kennengelernt haben, das gehört zum gewohnten Alltag von uns Betroffenen und unseren Bezugspersonen. Die "Einbecker Empfehlungen" sind Ihnen, meine sehr geehrte Damen und Herren, sicher nicht unbekannt. Es handelt sich dabei um Richtlinien, die dem Arzt bei der Entscheidung helfen sollen, inwieweit ein behinderter Säugling medizinisch optimal versorgt werden muß oder vielleicht doch besser liegengelassen werden sollte. In den Vorüberlegungen zur Abfassung dieser Empfehlungen war auch an das Krankheitsbild der "Osteogenesis imperfecta" gedacht als typischer Fall für eine Behinderung, die nicht weiter behandelt werden sollte. Plötzlich erinnerte sich ein Arzt daran, daß es doch da irgendwo in Deutschland einen Glasknochenkranken gab, der seinen Doktor gemacht und es als Schauspieler und Autor sogar zu einer gewissen Bekanntheit gebracht habe. Der Zufall meiner Existenz, oder besser meine Öffentlichkeitswirksamkeit, verhinderte, daß die Osteogenesis imperfecta in den Negativ-Katalog der "Einbecker Empfehlungen" aufgenommen wurde. Ein trauriger Trost, wenn man an die Tragweite der Entscheidung denkt.

Das Wissen um die "Osteogenesis imperfecta" ist nach vielen Jahrzehnten noch immer äußerst zurückgeblieben. Doch ist es heute - wie bereits erwähnt - wesentlich einfacher in einem solchen Fall einen Schwangerschaftsabbruch zu erwirken. Niemand aber werfe einen Stein auf jene Eltern, die sich zu einem derartigen Schritt entschließen. Letztlich geben weder die Mitmenschen noch die Behörden genügend Hilfestellung, um die Bürde zu tragen, die Angehörigen von behinderten Menschen auferlegt wird. Im Gegenteil, es scheint fast eine Sünde, sich der Herausforderung zu stellen. Ich sage absichtlich "Bürde", denn ich will die Probleme nicht verkleinern, mit denen sich Eltern von behinderten Kindern konfrontiert sehen. Trotzdem bleibe ich dabei: Nicht die Behinderung selbst ist in der Regel untragbar, sondern unser Verständnis vom Menschen hat zu Verhältnissen geführt, die Leben mit einer Behinderung auf das Äußerste belasten. Einmal mehr ist an den Satz zu erinnern: "Man ist nicht behindert, man wird es."

Was noch nicht vorhanden ist, kann auch nicht Schaden nehmen. Warum sollte also die Genmanipulation zugunsten des Betroffenen, die Verbesserung der Erbsubstanz, ein Verbrechen an der Natur sein? Ist es nicht sozialhygienische Prophylaxe, die niemandem schadet und jedem nützt? Die keimfreie Welt, die Welt ohne Leiden und Schmerz - abgesehen davon, daß es sie niemals geben wird - ist für mich eine Schreckensvision, schlimmer noch als Dantes "Inferno". Die Entwicklung der Menschheit wird von zwei Grundtendenzen geprägt: Die eine ist die unveränderte Weitergabe der Erbsubstanz an die nächste Generation, die andere ist die Tatsache, daß die Natur dabei Fehler macht. Ohne Fehler gäbe es keine Weiterentwicklung. Einem Behinderten ist die kürzlich geäußerte Theorie, daß der Homo Sapiens möglicherweise von einem behinderten Affen abstammt, der sich auf Grund eines körperlichen Defektes vom Boden erheben und aufrecht gehen mußte, verständlicherweise ein faszinierender Gedanke. Selbst wenn er nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen würde, in ihm birgt sich eine wichtige Erkenntnis: Evolutionssprünge sind zum Überleben der Menschheit nötig. Ob sie in eine Sackgasse führen oder eine neue Dimension eröffnen, kann man zu Beginn einer Abweichung nur selten wissen. 
Was aber bedeutet Behinderung? Nach meinem Dafürhalten verbindet die Öffentlichkeit - und ich schließe die Heilpädagogen dabei bewußt ein - stets mit dem Begriff "Behinderung" die Idee des Defizits, nicht der legitimen Andersartigkeit. Eine simple Tatsache: Ich wäre nicht das, was ich bin, wenn ich laufen könnte, keine deformierten Knochen hätte, nicht von vielen Frakturen gezeichnet wäre. Ich hätte wahrscheinlich nicht studiert, keine Karriere gemacht, hätte vieles nicht kompensieren müssen durch Fähigkeiten, die ich erst in meinem Behindertsein entwickelt habe. Andern Menschen ging es ähnlich und vielleicht kann man sogar die gewagte These aufstellen: Unsere Kultur beruht zu einem Großteil auf Persönlichkeiten, die nach herkömmlichen Kriterien der Ausmerzung durch die Gentechnik anheimfallen würden. Zurück zu meiner Person: Ich wurde, was ich bin und wie ich es bin, weil mich unter anderem meine Behinderung geformt hat - und ich bin in gewisser Weise stolz darauf. Ich will gerne einräumen, daß dieser Standpunkt nicht von allen meiner Schicksalsgefährten geteilt wird, nicht geteilt werden kann. Jeder steckt nur in der eigenen Haut, nicht in der eines anderen. Das ist unser Dilemma. Verkenne ich also, was uns der medizinische Fortschritt verheißt? Knochen, die nicht mehr brechen, Lungen, die nicht mehr abgeklopft werden müssen, Operationen, die überflüssig werden? Ich will hier nicht das Evangelium des Leidens propagieren, doch es kann nicht übersehen werden, daß sich der Mensch am existentiellsten erfährt, wenn er sich bewußt mit seinem Körper auseinandersetzt. Nehmen Sie diese Worte als von jemandem ab, der weiß, wovon er spricht. Schmerz ist für mich kein theoretischer Begriff, keine Idee, über die man beschaulich philosophiert. Vielmehr begleitete er mich meine ganze Kindheit hindurch. Knochenbrüche sind schmerzhaft, selbst nach über hundert Frakturen.

Und dennoch bleibe ich dabei: Es gibt in meinem Leben keine Erfahrung, die es nicht wert war, gemacht worden zu sein. Das ist sicher ein persönliches Credo, aber schließlich wurde ich aufgefordert, meine subjektive Meinung zu diesen Fragen zu äußern. Und ich glaube, es lohnt sich, ein wenig tiefer darüber nachzudenken. Waren Adam und Eva glücklicher bevor sie vom Baum der Erkenntnis aßen? Ich behaupte "Nein", trotz Schmerz und Mühsal, die ihnen daraus erwuchsen. Wenn ich mir nämlich nicht bewußt bin, was Glück ist, kann ich es auch nicht empfinden. Dazu gehört aber, daß ich weiß, was Unglück ist. Symbolisch gesprochen: Erst der Sündenfall hat den Menschen zum Menschen gemacht. Wir sollten nicht versucht sein, durch einen zweiten Sündenfall ihm diese Identität wieder zu nehmen.

Die Gentechnologie hat das unausgesprochene Ziel, die scheinbare Sinnlosigkeit von Behinderung und Krankheit aus unserm Leben zu verbannen. Ich habe meine Ausführungen mit einem Gedicht begonnen, erlauben Sie mir, mit einer altchinesischen Parabel zu enden, die vielleicht besser als alle Worte, die wir in den letzten vierzig Minuten gesagt haben, die Quintessenz unseres Problems zusammenfaßt. Vor über tausend Jahren schrieb ein Philosoph den folgenden Text: "Nehmen wir als Beispiel die Erde. Sie ist unendlich groß und weit. Aber der Mensch braucht von all dem nur den Fleck, auf dem er zufällig steht. Nun stelle dir vor, es würde plötzlich alles Erdreich weggenommen, das er im Augenblick nicht braucht, so daß sich um ihn herum ein Abgrund auftut und er im Leeren steht und nichts unter den Füßen hat als zwei, drei Schollen Erde. Was nützte ihm dies winzige Stück? - Huitse sagte: Es nützte ihm gar nichts. - Huangtse schloß: Damit ist erwiesen, wie notwendig das ist, was keinen Nutzen hat."