Peter Radtke

Leseprobe aus »Karriere mit 99 Brüchen«

Neuauflage erschienen 15.10. 2001 beim Allitera-Verlag

1. Kapitel
Eine ungünstige Prognose

"Es tut mir leid, Ihr Kind hat eine seltene Knochenkrankheit. Solche Fälle werden meist nicht älter als ein Jahr. Aber Kopf hoch! Sie können ja noch viele gesunde Kinder bekommen." Es war ein herrlicher Märztag 1943. Die Sonne malte freundliche Flecken auf den Fußboden des Krankenzimmers 204 im Entbindungstrakt der Universitätsklinik Freiburg im Breisgau. Für meine Eltern brach der Winter erst jetzt an. Knapp achtundvierzig Stunden zuvor hatte ich meine Reise in die Welt angetreten. Nun stand das Orakel im weißen Arztkittel wie ein Cherubim vor den Pforten des Paradieses und schien jede Hoffnung auf eine glückliche Zukunft zu Dritt zu zerstören. Viel weiß ich nicht über den Universitätsprofessor, der meine Lebenserwartungen so skeptisch einschätzte. Nur eines ist sicher: er muß außerordentlich menschlich gewesen sein. Heißt es nicht, "Irren ist menschlich"? Und er irrte sich gewaltig. Bis heute habe ich das mir gesetzte Lebenssoll um mehrere tausend Prozent überschritten, und auch die vielen gesunden Kinder müssen sich entweder auf eine andere Familie bezogen haben, oder der gute Prophet hatte etwas zu ausgiebig das Alte Testament studiert. Wenigstens bin ich bis dato Einzelkind, und daß sich meine über achtzig Jahre alte Mutter, quasi als zweite Sarah, nochmals zu einer Schwangerschaft aufrafft, ist kaum anzunehmen. Der Vollständigkeit halber sei nachgetragen, daß unser Medizinmann bald nach seiner fehlgeschlagenen Zukunftsvision selbst in die mir zugedachten ewigen Gefilde einging. Dort hat er Gelegenheit, die Weissagekunst besser zu erlernen, was aber seine vielen Kollegen nicht daran hindern wird, noch heute arme, unwissende Eltern mit ähnlichen Auskünften zu schrecken. Unter diesen Umständen kann es niemand verwundern, wenn Autoritätsdenken nie meine Stärke wurde. 

Allerdings standen die Aussichten für ein längeres Gastspiel meiner Person auf dieser Erde tatsächlich schlecht. In der Weltpolitik schickte sich Großdeutschland an, den Endsieg zu erringen; im Familiären sah die finanzielle Lage ähnlich trostlos aus. Meine Mutter war Krankenschwester gewesen, hatte aber mit der Heirat ihren Beruf aufgegeben, wie sich dies für eine gute Ehefrau damals gehörte. Aus der luftangriffsgefährdeten Reichshauptstadt Berlin war man in das geruhsame südbadische Freiburg gezogen, wodurch es mir gelang, trotz einer waschechten preußischen Abstammung, doch noch Süddeutscher zu werden. Mein Vater war Schauspieler. Seine knappe Gage deckte mit Mühe den Lebensunterhalt und die Miete für das winzige Zimmer, das sich hochtrabend "Wohnung" nannte. Für Sprünge, groß, mittel oder klein, blieb verständlicherweise nur wenig übrig. "Heirate einen Bahner! Mit der Reichsbahn fährst du langsam, aber sicher". Wie oft wird meine Mutter in jenen Tagen an Opas guten Rat gedacht haben. Schließlich mußte er es wissen, trug er doch selbst seit über dreißig Jahren die dunkelblaue Uniform mit dem goldenen Adler auf der Mütze. Aber jeder ist seines Glückes Schmied, und im Grunde war Mutter nicht unzufrieden mit ihrer Schmiedekunst. Gewiß hatte sie einen grashüpfrigen Künstler als Ehemann - was soll es - langweilige Bahner laufen überall herum. Wenn es mit den Finanzen nur etwas besser gestanden hätte...! Kurz und gut, in diese weltweite wie auch innerhäusliche Misere platzte ich unvermutet und ein wenig voreilig herein, mit meinen drei Oberarmbrüchen, die ich bei meiner Geburt, sozusagen als Einstandsgeschenk, mitgebracht hatte.

Ich war mit einer Bindegewebserkrankung auf die Welt gekommen, der man zwar einen wohlklingenden lateinischen Namen verpaßt hatte - Osteogenesis imperfecta, zu deutsch Glasknochenkrankheit - die aber zu jener Zeit noch ziemlich unbekannt war. Selbst heute schütteln Fachleute häufig den Kopf, wenn sie die Bezeichnung hören. Kein Wunder, gibt es doch nur rund dreitausend Kollegen meiner Specie in Deutschland, so daß ich in mehrfacher Hinsicht ein seltenes Exemplar bin.

Als ich geboren wurde, glaubten meine Eltern zunächst, die Krankenschwester habe mich fallen lassen, oder es sei sonst irgend etwas Unrechtes mit mir geschehen. Wie anders sollten sie sich erklären, daß ich nicht mit dem üblichen frohen Krähen das Licht der Welt begrüßte, sondern mit einem schmerzvollen Gewimmer. Wohlgemeinte Aufmunterung, wie Hochwerfen und kräftiges Schaukeln, brachten statt der erwarteten Wirkung nur ein verstärktes Wehklagen. Der eingangs zitierte Ausspruch der medizinischen Kapazität beendete dann fürs erste alle weiteren Mutmaßungen über böse Krankenschwestern und unsachgemäße Behandlung von Kleinkindern. Der Gerechtigkeit Willen sei jedoch eine Episode erwähnt, die unsern glücklosen Seher nachträglich in einem etwas milderen Licht erscheinen läßt. So unzutreffend seine unheilvolle Prognose auch war, so richtig lag er mit der Diagnose Glasknochenkrankheit. Hätte er diesen meinen Eltern mitgeteilten Befund jedoch an offizielle Stellen weitergeleitet, wäre mein Schicksal in jenen düsteren Tagen vermutlich wirklich sehr rasch besiegelt gewesen. So händigte der Doktor meinem Vater, ganz offensichtlich gegen besseres Wissen, ein Schreiben aus, in dem er bestätigte: "Das Kind Peter-Ernst Radtke leidet nicht an Osteogenesis imperfecta". Hätte der gute Mann in seinem Leben nichts anderes vollbracht als diese Liebeslüge, das Himmelreich müßte ihm zuteil werden. So verließ ich nach vierzehn Tagen die Stätte meiner Premiere, die Ärmchen mit dicken Bandagen umwickelt, gleich einem zum Kampf gerüsteten Profiboxer.

Kaum hatten mich meine Eltern aus der Klinik abgeholt, da begaben sie sich auch schon auf die berühmt-berüchtigte "Ärztetour". Wer kennt sie nicht, jene leidgeprüften Väter und Mütter, die von Autorität zu Autorität rennen, in der verzweifelten Hoffnung, irgendeinen Zauberdoktor zu entdecken, der doch noch das Unmögliche möglich macht? Aber kann man es ihnen verdenken? Wo ein Ast fehlt, wird ein Strohhalm zum Baumstamm. Arme, seit Jahrhunderten Betrogene! Die wahren Wunder des Lebens finden sich nicht in Jahrmarktsbuden. So liefen meine Eltern monatelang von Pontius zu Pilatus, um ein günstigeres Horoskop für meine Lebensaussichten zu ergattern. Überall war es das Gleiche: keiner der Götter in Weiß war bereit, eine höhere Summe auf meine Zukunft zu verwetten. In dieser Situation boten sich mir zwei Möglichkeiten: entweder ich beugte mich dem Urteil der Fachwelt und machte mich schleunigst aus dem Staub, oder ich versuchte mein Glück auf eigene Faust und begab mich auf den Lebensweg ohne die sonst reichlich verteilten Vorschußlorbeeren. Schwieriges hat mich immer gereizt. So entschied ich mich für die zweite Alternative, was ich bis heute nicht bereut habe.

Freiburg ist eine hübsche Stadt, oder war es zumindest, solange ich dort lebte. Die Bomben fielen erst, als ich der Schwarzwaldmetropole den Rücken gekehrt hatte. Dann leisteten sie allerdings so gründliche Arbeit, daß heute nicht mehr viel übriggeblieben ist vom Zauber der engen Gassen und der kleinen Bäche, die einst den Charme dieser Stadt ausmachten. Der Wiederaufbau besorgte den Rest. Schön wie ehedem ist jedoch die bezaubernde Landschaft. Vielleicht ist sie dafür verantwortlich, daß Reisen und Umherzigeunern zu einer meiner Lieblingsbeschäftigungen wurde, obwohl ich bisher erst selten einen Fuß auf den Boden gebracht habe. Noch bevor ich geboren wurde, versuchte meine Mutter, den gefährlichen Nomadentrieb, der in mir schlummerte, dadurch zu dämpfen, daß sie ausgedehnte Fußmärsche in die nähere und weitere Umgebung unternahm. Ganz offensichtlich hatte sie jedoch ein falsches Medikament zur Behandlung des verführerischen Bazillus erwischt. Statt mein Fernweh zu löschen, fachte sie es durch solche Exkursionen erst recht an. Über Kinderwagen, Fahrrad, Moped, Roller, Auto, Bahn, Schiff und Flugzeug sollte sich in den späteren Jahren mein Aktionsradius derart erweitern, daß heute zwischen Westindien, der Wüste Sahara und dem Ural kein Ort mehr vor meinem plötzlichen Auftauchen sicher sein kann. Damals aber genügten mir noch für meine Ausflüge die Rheinebene und die Weinberge des Kaiserstuhl. 

Manche Menschen haben das zweifelhafte Glück, gegen ihren Willen immer wieder zum Stein des Anstoßes zu werden. Vielleicht sahen kluge Leute dies voraus, hatte man mir doch bei der Taufe den bezeichnenden Namen "Peter", d.h. "der Fels" gegeben. Wenigstens war mein erster unbeabsichtigter Erfolg die gründliche Vergrämung einer ursprünglich freundlichen Zimmervermieterin. Die frühgealterte Frau hatte im Ersten Weltkrieg ihren Mann und zu Beginn des Zweiten ihren einzigen Sohn verloren. Nun ließ sie ihre objektsuchende Liebe den zahlreichen Mietern des Hauses zukommen, wobei für meine Eltern ein stattlicher Brocken abfiel. Mal stand ein frischgebackener Sonntagskuchen vor der Tür, mal brachte die aufmerksame Nachbarin von ihren Verwandten auf dem Land für meine Eltern Äpfel und Trauben. Doch all dies geschah, bevor ich plötzlich unangemeldet aufkreuzte. Voraussetzung für solche Freundlichkeit war nämlich ein ungeschriebenes Gesetz: keine Kinder. Das Lachen, das Weinen, das Schreien und Schäkern erinnerte die verbitterte Frau daran, wie sinnlos sie sich abgerackert hatte, einen Jungen großzuziehen, nur damit er unter Maschinengewehrgarben umkommen sollte.
In Unkenntnis der komplizierten Sachlage fand ich mich eines Tages dennoch ein. Mit einem Schlag veränderte sich die friedliche Landschaft. Die fünfundzwanzig Quadratmeter große Kammer wurde zum Vorzimmer der Hölle, und die eben noch gutmütige Matrone avancierte zur Großmutter des Teufels. Keine Gelegenheit ließ nun die Alte aus, meine Eltern zu drangsalieren. Von Sonntagskuchen, Äpfeln und Trauben war keine Rede mehr. Dabei strengte sich meine Mutter nach Kräften an, mich gewissermaßen unsichtbar zu machen. Der Erfolg war lediglich, daß die Hexe überall im Haus herumerzählte, man wolle mich ihr nicht zeigen, da sie angeblich den bösen Blick habe. Weder meine Eltern noch ich waren für einen derartigen Umgang gerüstet. So tat mein Vater das einzig Richtige: er packte seine Familie, schüttelte den Freiburger Staub von den Schuhen und wechselte das Theater.